Ein Gastbeitrag von Annalena Bürk

Dieser Artikel ist zuerst erschienen als:
Bürk, Annalena: Unsichtbare Bilder im Kopf. Warum Exilantinnen des 19. Jahrhunderts für unser heutiges Verständnis von Migration so relevant sind, in: Migration and Belonging, 29/08/2025.
Flucht. Exil. Migration. Drei Worte, die verschiedene Bilder in unseren Köpfen hervorrufen – doch sind diese Bilder wirklich so verschieden? Höchstwahrscheinlich nicht. Woran liegt das? Oder genauer gefragt: Auf welche Darstellungen und Überlieferungen sind diese Vorstellungen zurückzuführen?
Sicherlich trägt zum einen der aktuelle vereinfachte politische Diskurs seinen Teil dazu bei, dass komplexe Geschichten von Migration zur nahezu homogenisierten Darstellung vom „Menschen mit Migrationsgeschichte“ heruntergebrochen werden – undifferenziert in jeglicher Hinsicht.
Zum anderen erinnern wir logischerweise auch (nur) das, was historisch überliefert wurde. Denn, was nicht oder wenig dokumentiert wurde, scheint nicht oder kaum existiert zu haben – und was (vermeintlich) nicht existiert, lässt sich schwer erinnern. Es bestehen also die große Wahrscheinlichkeit und Gefahr, dass es Realitäten gibt und gab, die unsichtbar sind. Sicher kann man an dieser Stelle zig spannende Fragen stellen und versuchen zu lösen. Innerhalb dieses Beitrags widme ich mich den Fragen: Kann man Unsichtbares sichtbar machen? Und gibt es eine (verborgene) Wirkungsmacht von Unsichtbarem?
Kann man Unsichtbares sichtbar machen?
Anhand eines Beispiels wird im Folgenden Unsichtbares und dessen verborgene Wirkungsmacht innerhalb der Migrationsgeschichte offengelegt und um eine postkoloniale Perspektive erweitert. Durch das Übertragen auf ein weiteres Beispiel wird die Gefahr selektiver Wahrnehmungen und Relevanz des Themas verdeutlicht. Zunächst beschäftige ich mich also, gemäß der Publikation von Sylvie Aprile, Delphine Diaz, Alexandre Dupont und Antonin Durand,1 exemplarisch mit Exilantinnen im Europa des 19. Jahrhunderts.
Denn Frauen im Exil waren nicht nur zahlenmäßig präsent – als Ehepartnerinnen, Töchter und politische Akteurinnen –, sondern sie waren auch für das alltägliche (Über)leben und für politischen Aktivismus verantwortlich. Und trotzdem stehen sie bis heute weitgehend im Schatten einer männlich-normativ erzählten und wahrgenommenen Exilgeschichte, da ihr Handeln nicht in gleicher Weise anerkannt wird und wurde. Paradoxerweise eröffnete genau diese gesellschaftliche Abwertung Räume für Exilantinnen, in denen sie unter dem Deckmantel ihrer vergeschlechtlichten Positionierung und Zuschreibungen nahezu unsichtbar, jedoch effektiv, agieren konnten.
Aprile et al. verdeutlichen außerdem, dass nicht nur Geschlecht, sondern auch soziale, ökonomische und familiäre Konstellationen die Exilerfahrungen bedingten. Sie verweisen dabei auf die Relevanz des intersektionalen Ansatzes in der Betrachtung von Migrations- und insbesondere Exilerfahrungen.2 Dadurch lassen sich Überlieferungen vollständiger erzählen und differenziertere Vorstellungen und Bilder in unseren Köpfen produzieren – Unsichtbares kann also sichtbarer werden.
Von Intersektionalität zu Assemblage
Intersektionalität liegt vor, wenn sich Differenzachsen (z. B. Geschlecht, „Race“, Klasse) überschneiden und so bestimmte Situiertheiten bilden. Diese funktionieren dabei als starre, also determinierende Differenzkategorien. Darin wiederum liegt die Gefahr, dass Abweichungen oder Dynamiken ausgeschlossen – sprich unsichtbar – bleiben könnten. Angesichts dieser Problematik schlagen Nikita Dhawan und Maria do Mar Castro Varela vor,3 das Verständnis von Differenz weiterzudenken – nicht als starre, sich linear überschneidende Achsen, sondern als dynamische Prozesse mit Wechselwirkungen und Bedingungen (z. B. Geschlecht, Raum, Emotionen, Affekt), wofür sie auf den Begriff der Assemblage zurückgreifen.
Diese theoretische Erweiterung erlaubt es, Exilantinnen als aktive Subjekte zu begreifen und nicht als Betroffene verschiedener Diskriminierungen. Das Beispiel des Handlungsspielraums der Exilantinnen verdeutlicht diese produktive Verschiebung: Die Ambivalenz zwischen öffentlicher Unterschätzung und gleichzeitiger politischer Einflussnahme wird im intersektionalen Sinne als Handlungsspielraum aufgrund von Marginalisierung (oder Unsichtbarkeit) wahrgenommen. Dhawan und Castro Varela4 jedoch deuten dies um als „Affective Sabotage“: eine Widerstandsform, die subversiv Normerwartungen unterläuft. Demnach kann auch die Wirkungsmacht im Unsichtbaren sichtbar gemacht werden, wie uns dieser ermächtigende Bedeutungswechsel aufzeigt.
Ein unvollständiger Überblick über Migrationsbewegungen
Bevor ich den Bogen jedoch ganz schließe, zoome ich noch einmal raus und überblicke Flucht, Exil, Migration von oben – sozusagen Migration als „Geschichte und Zukunft der Gegenwart“. Was könnte dazu besser dienen als Jochen Oltmers gleichnamiges Werk über globale Migrationsbewegungen?5 Mit seiner detaillierten Übersicht will er verdeutlichen, dass sich aktuelle Migrationsphänomene „nur […] im Sinne einer Langzeitbeobachtung von Gesellschaften über Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte erklären“ lassen, so seine Homepage. Dabei stellt er eine wiederkehrende selektive Wahrnehmung seitens der Einwanderungsgesellschaften heraus – und prangert eine irreführende Darstellung seitens eurozentrischer Regime an.6 Doch gleichzeitig werden in Oltmers Überblick Frauen als Migrationsakteurinnen nicht spezifisch erwähnt, sondern gehen durch den sprachlichen Gebrauch des generischen Maskulinums eher unter. Allerdings spielt Geschlecht wohl doch insofern eine Rolle, als dass Oltmer explizit sexualisierte Gewalt thematisiert.7 Spätestens an dieser Stelle sollte klar sein, dass es ebenfalls zu problematisch verzerrten Wahrnehmungen führt, wenn geschlechtsspezifische oder intersektionale Differenzierungen unzureichend oder gar nicht angegangen werden. In beiden Fällen werden unvollständige und realitätsferne Bilder reproduziert.
Flucht, Exil, Migration wird es immer geben. Vereinfachende Bilder von komplexen Gegebenheiten auch. Lasst uns trotzdem damit anfangen, Geschichte(n) darüber neu zu schreiben und Gegebenheiten zu hinterfragen. Indem wir zum Beispiel versuchen, Unsichtbares sichtbar, Passives aktiv und Eingeschränktes handlungsmächtig zu machen.
Gastautor*in: Annalena Bürk schloss ihren Bachelor in Mehrsprachiger Kommunikation 2018 in Köln ab, wohnte in der Zwischenzeit in Halle an der Saale und in ihrer Heimat, dem Ortenaukreis, wo sie als Kursleiterin für DaZ (Deutsch als Zweitsprache) und als Integrationsbeauftragte arbeitete. In diesen Bereichen arbeitet sie auch heute noch, währenddessen studiert sie in Innsbruck den Master Gender, Kultur und Sozialer Wandel mit dem Ziel, die im Studium vermittelten Perspektiven im Alltag und Beruf sinnvoll zu integrieren.
Dieser Artikel ist zuerst erschienen als:
Bürk, Annalena: Unsichtbare Bilder im Kopf. Warum Exilantinnen des 19. Jahrhunderts für unser heutiges Verständnis von Migration so relevant sind, in: Migration and Belonging, 29/08/2025.
Quellen
Aprile, Sylvie / Diaz, Delphine / Dupont, Alexandre / Durand, Antonin: Gender and Exile, in: Diaz, Delphine / Aprile, Sylvie (Hg.): Banished. Traveling the Roads of Exile in Nineteenth-Century Europe. Berlin, Boston 2022, 175-204.
Aprile / Diaz / Dupont / Durand: Gender and exile, a.a.O., 175ff. und 182.
Dhawan, Nikita / Castro Varela, María do Mar: What difference does difference make?: Diversity, Intersectionality and Transnational Feminist Politics, in: Wagadu: A Journal of Transnational Women’s and Gender Studies 16 (2016), 11-39, hier 21 ff.
Dhawan / Castro Varela: What difference, a.a.O., 35.
Oltmer, Jochen: Migration – Geschichte und Zukunft der Gegenwart. Darmstadt 2017.
Oltmer, Migration, a.a.O., 238.
Oltmer, Migration, a.a.O., 145.









