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Aktivismus Alltag Tirol

Unsichtbare Bilder im Kopf. Warum Exilantinnen des 19. Jahrhunderts für unser heutiges Verständnis von Migration so relevant sind

Ein Gastbeitrag von Annalena Bürk

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Dieser Artikel ist zuerst erschienen als:
Bürk, Annalena: Unsichtbare Bilder im Kopf. Warum Exilantinnen des 19. Jahrhunderts für unser heutiges Verständnis von Migration so relevant sind, in: Migration and Belonging, 29/08/2025.

Flucht. Exil. Migration. Drei Worte, die verschiedene Bilder in unseren Köpfen hervorrufen – doch sind diese Bilder wirklich so verschieden? Höchstwahrscheinlich nicht. Woran liegt das? Oder genauer gefragt: Auf welche Darstellungen und Überlieferungen sind diese Vorstellungen zurückzuführen?

Sicherlich trägt zum einen der aktuelle vereinfachte politische Diskurs seinen Teil dazu bei, dass komplexe Geschichten von Migration zur nahezu homogenisierten Darstellung vom „Menschen mit Migrationsgeschichte“ heruntergebrochen werden – undifferenziert in jeglicher Hinsicht.

Zum anderen erinnern wir logischerweise auch (nur) das, was historisch überliefert wurde. Denn, was nicht oder wenig dokumentiert wurde, scheint nicht oder kaum existiert zu haben – und was (vermeintlich) nicht existiert, lässt sich schwer erinnern. Es bestehen also die große Wahrscheinlichkeit und Gefahr, dass es Realitäten gibt und gab, die unsichtbar sind. Sicher kann man an dieser Stelle zig spannende Fragen stellen und versuchen zu lösen. Innerhalb dieses Beitrags widme ich mich den Fragen: Kann man Unsichtbares sichtbar machen? Und gibt es eine (verborgene) Wirkungsmacht von Unsichtbarem?

Kann man Unsichtbares sichtbar machen?

Anhand eines Beispiels wird im Folgenden Unsichtbares und dessen verborgene Wirkungsmacht innerhalb der Migrationsgeschichte offengelegt und um eine postkoloniale Perspektive erweitert. Durch das Übertragen auf ein weiteres Beispiel wird die Gefahr selektiver Wahrnehmungen und Relevanz des Themas verdeutlicht. Zunächst beschäftige ich mich also, gemäß der Publikation von Sylvie Aprile, Delphine Diaz, Alexandre Dupont und Antonin Durand,1 exemplarisch mit Exilantinnen im Europa des 19. Jahrhunderts.

Denn Frauen im Exil waren nicht nur zahlenmäßig präsent – als Ehepartnerinnen, Töchter und politische Akteurinnen –, sondern sie waren auch für das alltägliche (Über)leben und für politischen Aktivismus verantwortlich. Und trotzdem stehen sie bis heute weitgehend im Schatten einer männlich-normativ erzählten und wahrgenommenen Exilgeschichte, da ihr Handeln nicht in gleicher Weise anerkannt wird und wurde. Paradoxerweise eröffnete genau diese gesellschaftliche Abwertung Räume für Exilantinnen, in denen sie unter dem Deckmantel ihrer vergeschlechtlichten Positionierung und Zuschreibungen nahezu unsichtbar, jedoch effektiv, agieren konnten.

Aprile et al. verdeutlichen außerdem, dass nicht nur Geschlecht, sondern auch soziale, ökonomische und familiäre Konstellationen die Exilerfahrungen bedingten. Sie verweisen dabei auf die Relevanz des intersektionalen Ansatzes in der Betrachtung von Migrations- und insbesondere Exilerfahrungen.2 Dadurch lassen sich Überlieferungen vollständiger erzählen und differenziertere Vorstellungen und Bilder in unseren Köpfen produzieren – Unsichtbares kann also sichtbarer werden.

Von Intersektionalität zu Assemblage

Intersektionalität liegt vor, wenn sich Differenzachsen (z. B. Geschlecht, „Race“, Klasse) überschneiden und so bestimmte Situiertheiten bilden. Diese funktionieren dabei als starre, also determinierende Differenzkategorien. Darin wiederum liegt die Gefahr, dass Abweichungen oder Dynamiken ausgeschlossen – sprich unsichtbar – bleiben könnten. Angesichts dieser Problematik schlagen Nikita Dhawan und Maria do Mar Castro Varela vor,3 das Verständnis von Differenz weiterzudenken – nicht als starre, sich linear überschneidende Achsen, sondern als dynamische Prozesse mit Wechselwirkungen und Bedingungen (z. B. Geschlecht, Raum, Emotionen, Affekt), wofür sie auf den Begriff der Assemblage zurückgreifen.

Diese theoretische Erweiterung erlaubt es, Exilantinnen als aktive Subjekte zu begreifen und nicht als Betroffene verschiedener Diskriminierungen. Das Beispiel des Handlungsspielraums der Exilantinnen verdeutlicht diese produktive Verschiebung: Die Ambivalenz zwischen öffentlicher Unterschätzung und gleichzeitiger politischer Einflussnahme wird im intersektionalen Sinne als Handlungsspielraum aufgrund von Marginalisierung (oder Unsichtbarkeit) wahrgenommen. Dhawan und Castro Varela4 jedoch deuten dies um als „Affective Sabotage“: eine Widerstandsform, die subversiv Normerwartungen unterläuft. Demnach kann auch die Wirkungsmacht im Unsichtbaren sichtbar gemacht werden, wie uns dieser ermächtigende Bedeutungswechsel aufzeigt.

Ein unvollständiger Überblick über Migrationsbewegungen

Bevor ich den Bogen jedoch ganz schließe, zoome ich noch einmal raus und überblicke Flucht, Exil, Migration von oben – sozusagen Migration als „Geschichte und Zukunft der Gegenwart“. Was könnte dazu besser dienen als Jochen Oltmers gleichnamiges Werk über globale Migrationsbewegungen?5 Mit seiner detaillierten Übersicht will er verdeutlichen, dass sich aktuelle Migrationsphänomene „nur […] im Sinne einer Langzeitbeobachtung von Gesellschaften über Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte erklären“ lassen, so seine Homepage. Dabei stellt er eine wiederkehrende selektive Wahrnehmung seitens der Einwanderungsgesellschaften heraus – und prangert eine irreführende Darstellung seitens eurozentrischer Regime an.6  Doch gleichzeitig werden in Oltmers Überblick Frauen als Migrationsakteurinnen nicht spezifisch erwähnt, sondern gehen durch den sprachlichen Gebrauch des generischen Maskulinums eher unter. Allerdings spielt Geschlecht wohl doch insofern eine Rolle, als dass Oltmer explizit sexualisierte Gewalt thematisiert.7 Spätestens an dieser Stelle sollte klar sein, dass es ebenfalls zu problematisch verzerrten Wahrnehmungen führt, wenn geschlechtsspezifische oder intersektionale Differenzierungen unzureichend oder gar nicht angegangen werden. In beiden Fällen werden unvollständige und realitätsferne Bilder reproduziert.

Flucht, Exil, Migration wird es immer geben. Vereinfachende Bilder von komplexen Gegebenheiten auch. Lasst uns trotzdem damit anfangen, Geschichte(n) darüber neu zu schreiben und Gegebenheiten zu hinterfragen. Indem wir zum Beispiel versuchen, Unsichtbares sichtbar, Passives aktiv und Eingeschränktes handlungsmächtig zu machen.

Gastautor*in: Annalena Bürk schloss ihren Bachelor in Mehrsprachiger Kommunikation 2018 in Köln ab, wohnte in der Zwischenzeit in Halle an der Saale und in ihrer Heimat, dem Ortenaukreis, wo sie als Kursleiterin für DaZ (Deutsch als Zweitsprache) und als Integrationsbeauftragte arbeitete. In diesen Bereichen arbeitet sie auch heute noch, währenddessen studiert sie in Innsbruck den Master Gender, Kultur und Sozialer Wandel mit dem Ziel, die im Studium vermittelten Perspektiven im Alltag und Beruf sinnvoll zu integrieren.

Dieser Artikel ist zuerst erschienen als:
Bürk, Annalena: Unsichtbare Bilder im Kopf. Warum Exilantinnen des 19. Jahrhunderts für unser heutiges Verständnis von Migration so relevant sind, in: Migration and Belonging, 29/08/2025.

Quellen
Aprile, Sylvie / Diaz, Delphine / Dupont, Alexandre / Durand, Antonin: Gender and Exile, in: Diaz, Delphine / Aprile, Sylvie (Hg.): Banished. Traveling the Roads of Exile in Nineteenth-Century Europe. Berlin, Boston 2022, 175-204.

Aprile / Diaz / Dupont / Durand: Gender and exile, a.a.O., 175ff. und 182.

Dhawan, Nikita / Castro Varela, María do Mar: What difference does difference make?: Diversity, Intersectionality and Transnational Feminist Politics, in: Wagadu: A Journal of Transnational Women’s and Gender Studies 16 (2016), 11-39, hier 21 ff.

Dhawan / Castro Varela: What difference, a.a.O., 35.

Oltmer, Jochen: Migration – Geschichte und Zukunft der Gegenwart. Darmstadt 2017.

Oltmer, Migration, a.a.O., 238.

Oltmer, Migration, a.a.O., 145.

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Wie sich Kinderarmut auf soziale Aufstiegschancen auswirkt und einzig Hilfe zur Selbsthilfe hilft

Ein Essay-Beitrag von Laura

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Das Buch „Kein Pausenbrot, keine Kindheit, keine Chance“ (2020) von Jeremias Thiel erzählt die Kindheit des Autors aus der Ich-Perspektive. Thiel wuchs in einer Familie auf, die von Armut, Krankheit und Überforderung geprägt war. Bedingungen, die viele Kinder in Deutschland betreffen. Laut Statistischem Bundesamt lebt rund jedes fünfte Kind in Armut (DER SPIEGEL 2024). Sein autobiografisches Buch handelt von fehlenden Chancen, Hilflosigkeit und dem tiefen Wunsch nach einem Ausweg. Darüber hinaus zeigt Thiels Geschichte, dass Armut nicht nur materiell wirkt, sondern auch strukturell und emotional. Der vorliegende Text fokussiert sich auf ausgewählte Erfahrungen des Autors im Hinblick auf ungleichheits- und emotionstheoretische Konzepte.

Die Schule lässt sich als Ort der Reproduktion sozialer Ungleichheit beschreiben. Es ist ein Raum feiner Distinktionsmechanismen von Sprache über das Pausenbrot bis zur Gymnasialempfehlung. Thiel schreibt: „In der vierten Klasse hatte ich keine Empfehlung fürs Gymnasium bekommen, obwohl meine Noten dafür gesprochen hätten. Auf dem Etikett, das man mir aufgeklebt hatte, stand: schlauer Kerl, aber arm“ (Thiel 2020: 11). Hiermit wird die
symbolische Gewalt von Pierre Bourdieu veranschaulicht: Eine subtile Form sozialer Machtausübung, die als gerecht erscheint und nicht hinterfragt wird. Das Beispiel verdeutlicht, dass Lehrkräfte neben den Noten die soziale Herkunft oftmals unbewusst mit einbeziehen, wenn es um das Aussprechen der Gymnasialempfehlung geht. Auch wenn sich Lehrkräfte bemühen, können sie sich kaum gegen die gesellschaftlichen Strukturen widersetzen, die Kinder aus ärmeren Verhältnissen benachteiligen. Infolgedessen sind Bildungsinstitutionen Orte der Klassifikation: Zwar wird Gleichheit propagiert, aber Ungleichheit unbewusst produziert. Diese stillschweigende Reproduktion sozialer
Ungleichheit lässt sich am Beispiel Thiels nichtnur als symbolische Gewalt, sondern auch als institutionelle Diskriminierung fassen. Gemeint ist die strukturelle Benachteiligung bestimmter Gruppen durch Normen, wie sie in der Schule herrschen.

Diese Diskriminierung wirkt gleichermaßen auf mehreren Ebenen: Einerseits in direkter Form, etwa durch Entscheidungen im Zuge der Frühselektion nach der Grundschule. Trotz guter Leistungen erhält Thiel keine Empfehlung für das Gymnasium. Eine Entscheidung, die nicht seine Fähigkeiten, sondern seine soziale Herkunft widerspiegelt. Andererseits zeigt sich institutionelle Diskriminierung auch in indirekter Form – subtiler, aber ebenso wirkmächtig. Sie zeigt sich in Erwartungen an sprachlichen Ausdruck, an das Verhalten der Eltern sowie an ein äußeres Erscheinungsbild, das den schulischen Normen entspricht. Wer diese unausgesprochenen Erwartungen nicht erfüllt, fällt auf. Es ist kein Fehlverhalten, sondern die Abweichung von einer Norm. Diese Verbindung aus struktureller Ausgrenzung und subtiler Abwertung lässt Kinder wie Thiel in einem System zurück, das ihnen unterschwellig vermittelt, ihr Scheitern sei selbstverschuldet. Thiel beschreibt einen typischen Morgen in seiner Familie: „Diese Morgen waren nicht alle
gleich, aber sie hatten eines gemeinsam: Sie waren von Überforderung geprägt. […] Dass meine Mutter laut und oft auch handgreiflich wurde – es gehörte zu meinem Tagesbeginn“ (ebd.: 88). Dass seine Mutter laut wird, macht deutlich, dass Thiel als Kind sehr wohl spürt, dass etwas nicht stimmt: Sei es Überforderung, die sich in lauten Ausbrüchen oder sogar in Handgreiflichkeiten äußert. Sprache, die als Mittel der Kommunikation und Fürsorge in anderen Familie dient, schlägt hier in Sprachlosigkeit und Gewalt um. Wenn einem die Worte fehlen, um Überforderung auszudrücken, greift man zur Gewalt. Es ist gleichzeitig ein Ausdruck von Hilflosigkeit. Aus der Perspektive des Kindes sind diese Ausbrüche keine Ausnahmen, sondern Teil seines Alltags.

Am Beispiel seines Pausenbrots verdeutlicht Thiel eindrücklich die soziale Bedeutung scheinbar alltäglicher Dinge: „Zwischen zwei Scheiben labbrigen Toastbrot […] lag eine Scheibe Lyoner aus der Plastikverpackung vom Discounter. Eine Brotdose hatte ich nicht, stattdessen verlor sich mein Pausenbrot in einem Plastikbeutel“ (ebd.: 88-89). Diese Situation zeigt symbolisch den Klassenunterschied zu seinen Mitschüler:innen. Sie verweist nicht nur auf fehlende finanzielle Mittel, sondern auch auf Lieblosigkeit. Während andere Kinder geschmierte Brote in bunten Dosen mit Obst und Snacks mitbringen, steht sein Pausenbrot als Sinnbild für Scham und Vernachlässigung. Der Autor illustriert, dass er keine Familie hat, die ihn aktiv in der Schule unterstützt, beispielsweise in Form von Hausaufgabenbetreuung. Es wird deutlich, wie gering sein soziales Kapital nach Bourdieu ist und wie sehr sich das auf seine schulische und soziale Entwicklung auswirkt. „Ich habe viel zu früh viel zu viel Verantwortung übernehmen müssen, habe ein Stück weit meine Familie ‚gemanagt‘, obwohl ich selbst gerade erst Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt hatte“ (ebd.: 14). Thiel übernimmt Verantwortung aus einem habitualisierten und verinnerlichten Pflichtgefühl heraus. Seine familiäre Situation lässt ihm keine andere Wahl. Bourdieu spricht vom „Habitus der Notwendigkeit“, in dem Entscheidungen nicht aus freien Stücken, sondern aus Zwang heraus getroffen werden (Wolf 2025: 42). Thiel erklärt: „[U]nd das war für mich das Schlimmste – war ich gezwungen, ein Leben zu führen, dem jedes noch so kleine Stückchen Struktur und Ordnung fehlte“ (Thiel 2020: 14). Thiel veranschaulicht, wie ihn seine familiäre Situation in eine Rolle drängt, die ein Kind nicht übernehmen sollte: Verantwortung tragen, funktionieren, aushalten. Er spricht von Scham über Kleidung, über das Pausenbrot, von dem Gefühl, nicht dazuzugehören und einer tiefen Sehnsucht nach Ordnung und Klarheit.

Die von Eva Illouz beschriebene emotionale Ordnung moderner Gesellschaften hilft dabei, Thiels Erfahrungen nicht nur individuell, sondern als gesellschaftlich geprägte zu betrachten. Scham, das Gefühl der Abweichung oder das Empfinden des Nicht-Dazugehörens sind in dieser Perspektive keine bloßen privaten Reaktionen. Vielmehr spiegeln sie gesellschaftliche Regeln wider, wer sich wie fühlen darf – und wer nicht. In einer Gesellschaft, die bestimmte Normen fortwährend reproduziert, sind Emotionen wie Scham und Überforderung beinahe unausweichlich, sobald jemand von diesen Erwartungen abweicht. Solche Gefühle tragen zur Stabilisierung sozialer Ungleichheit bei. Diese emotionale Ordnung ist kein Zufall, sondern wird kulturell hergestellt, u. a. durch Institutionen wie die Schule, die Bewertungssysteme übernimmt, soziale Normen weiterträgt und dabei Emotionen reguliert. In diesem Gefüge erscheinen Emotionen wie Scham oder Hoffnungslosigkeit nicht als Kritik am System, sondern als persönliches Problem.

Erst im SOS-Kinderdorf erfährt Thiel so etwas wie Fürsorge und ein Leben, das nicht von Chaos, sondern von Struktur geprägt ist. „Im SOS-Kinderdorf in Kaiserslautern angekommen [,] verwandelte sich mein Leben von Grund auf. Zum ersten Mal erlebte ich verlässliche Fürsorge durch Erwachsene, so etwas wie ein strukturiertes Leben und Ruhe“ (ebd.: 14-15). Auch in der Tagesgruppe, die ihm durch das Eingreifen einer Lehrerin ermöglicht wird, erlebt er zum ersten Mal emotionale Verlässlichkeit und soziale Stabilität. „In der Tagesgruppe fand ich Erwachsene, die für mich da waren“ (ebd.: 34). In der Tagesgruppe wird greifbar, was Bourdieu unter sozialem Kapital versteht: Zugehörigkeit, Beziehungen und verlässliche Netzwerke. Thiel wird zum ersten Mal Teil einer Gemeinschaft, die an ihn glaubt und ihm den Raum gibt, sich zu entfalten. Einerseits gelang Thiel in die Tagesgruppe nur, weil eine Lehrerin auf ihn aufmerksam wurde. Andererseits kam Thiel nur ins SOS-Kinderdorf, weil er selbst aktiv wurde mit einem Hilferuf und einem Vorsprechen beim Jugendamt. In meinem Empfinden ist es bezeichnend, dass ein elfjähriges Kind diesen Schritt allein gehen musste, weil es sonst niemand für ihn getan hätte.

Thiel beschreibt, wie ihm oft Scham überkam: wegen seines Pausenbrots, seiner Kleidung, seiner Andersartigkeit. Diese Scham ist Ausdruck eines Gefühls von Mangel: nicht nur an Geld bemessen, sondern auch an Zugehörigkeit und Wertschätzung. Er schreibt von dem Gefühl, nach Armut zu riechen, und davon, dass andere Kinder nicht ahnen können, wovon arme Kinder träumen – etwa von einem Druckbleistift (ebd.: 101). Armut wirkt hier nicht nur materiell, sondern auch tief emotional: Sie untergräbt Selbstwert und soziale Teilhabe.

Insbesondere beschäftigt mich die Frage, warum soziale Ungleichheit oftmals individuell betrachtet wird? Thiels frühes „Scheitern“ im Bildungssystem wird nicht als Systemversagen markiert, sondern erscheint wie eine logische Folge seiner sozialen Herkunft. Symbolische
Gewalt zeigt sich gerade darin, dass sie nicht als solche erkannt wird und als gerecht erscheint, weil sie durch vermeintlich neutrale Strukturen wie Schulnoten oder Übergangsempfehlungen verschleiert wird. Die Idee, dass Bildung für alle gleich ist, ignoriert reale Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, die Kinder unterschiedlich stark belasten.

Thiels Geschichte ist eindrücklich, weil sie sichtbar macht, wie sich strukturelle Ungleichheit in das Leben von Kindern einprägt. Es ist ein Leben, in dem Selbsthilfe zur einzigen Option wird: Hilfe von außen kommt oft zu spät oder bleibt ganz aus. Bildung bleibt machtlos gegenüber sozialer Ungleichheit, solange finanzielle und materielle Voraussetzungen ungleich verteilt sind. Ein System, das Chancengleichheit verspricht, aber Benachteiligungen aufgrund sozialer Herkunft ignoriert, reproduziert Ungleichheit unter dem Deckmantel von Leistung. Kinder wie Jeremias Thiel müssen nicht nur mehr leisten als andere, um überhaupt gesehen zu werden. Oft kämpfen sie zusätzlich gegen ein System, das ihre Realität gar nichterst mitdenkt.

Zugleich dient seine Geschichte der Legitimation des Systems: Sie soll zeigen, dass Aufstieg möglich sei und verschleiert genau dadurch, dass der Ausnahmefall das System nicht widerlegt, sondern bestätigt. Thiel wird zum Alibi eines Systems, das sich selbst als gerecht inszeniert, während es strukturell aussortiert. Die Geschichte Thiels zeigt eindrücklich: Es braucht nicht mehr Anpassung von den Kindern, sondern mehr Verantwortungsbewusstsein
von der Gesellschaft. Solange strukturelle Ungleichheit nicht gesehen und institutionell verschleiert wird, bleibt Bildung ein Versprechen auf gesellschaftlichen Aufstieg, das für viele keine Gültigkeit hat. Auch wenn Thiels Geschichte stark über Klasse lesbar ist, sollte nicht übersehen werden, dass soziale Benachteiligung oft mit weiteren Achsen der Ungleichheit wie Migration, Behinderung oder geschlechtsspezifischer Zuschreibung verwoben ist. Eine intersektionale Perspektive hilft, solche Überschneidungen mitzudenken: Insbesondere im Bildungssystem, wo Mehrfachdiskriminierungen selten explizit thematisiert werden.

Quellen
DER SPIEGEL (2024): In Deutschland lebt jedes fünfte Kind in Armut. Verfügbar unter: https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/kinderarmut-jedes-fuenfte-kind-in-deutschland-leidet-unter-armut-a-d17ca4ca-48e8-4ec1-83d3-d4770d5a09a7 [Zugriff am: 15.06.2025].

Thiel, Jeremias (2020): Kein Pausenbrot, keine Kindheit, keine Chance: Wie sich Armut in Deutschland anfühlt und was sich ändern muss. München: Piper.

Wolf, Maria A. (2025): Vorlesung C_2a: Sozialer Raum – Klassen – Feld. Theoretische Grundbegriffe II_Bourdieu. V orlesung im Rahmen der Lehrveranstaltung Geschichte und Theorie der sozialen Ungleichheit und Inklusion, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Innsbruck.

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INNklusion – für einen langfristigen Wandel

Beitrag von Helen Schindler

Foto: Anna Zweimüller

Das Projekt INNklusion der Universität Innsbruck etabliert eine interdisziplinäre Lehr- und Forschungsplattform, in der Studierende gemeinsam mit Menschen mit Behinderungen und Expert*innen innovative Assistenzlösungen entwickeln. Ziel ist die nachhaltige Förderung von gesellschaftlicher Teilhabe durch praxisnahe Co-Creation, bei der die jeweiligen Lebensrealitäten aktiv eingebunden werden.

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Alltag

Wie ich gelernt habe, mit dem Herzen zu sehen

Gastbeitrag von Kathi Bacher

Kathi Bacher steht unter einem Pavillon hinter einem Tisch mit Flyern vor einem Mikrofon und lächelt. Im Hintergrund hängen eine trans und eine nonbinary Flagge. Es stehen einige Menschen unter dem Pavillon oder davor und schauen zu Kathi.
© Martin Kink

Kathi Bacher hat im März und Juni bei verschiedenen Slam-Events in Tirol und am Trans Day of Visibility beim Landesmuseum einen Text vorgetragen, der ihre Erfahrung mit dem Transitionsprozess einer befreundeten Person auf berührende und liebevolle Art erzählt und vermittelt. Nun hat sie Auszüge dieses Textes für uns und euch zusammengeschrieben, kommentiert und in Kontext gesetzt. Sie beschreibt, wie es gelingen kann eigene Vorurteile zu überdenken und sich neu und empathisch auf andere Menschen einzulassen. Viel Spaß beim Lesen!

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Uni für alle! – Toilette für alle?

Text von Felix Lene Ihrig

Zeichnungen einer Sitztoilette von der Seite und eines Waschbeckens von vorne, nebeneinander, schwarz auf weiß
Photo by mohamed_hassan on pixabay.com

Der „Pride Month“ steht vor der Tür. Und damit eine Zeit, in der sich viele Firmen und Institutionen mit Regenbogenfahnen schmücken, Vielfalt zelebrieren und auf Gleichbehandlung hinweisen. Eine Zeit, in der queere Menschen scheinbar sorglos sichtbar sein können. Eine Zeit, in der ich an die „Toiletten-Debatte“ an unserer Uni im Januar1 zurückdenke und mich frage… wäre jetzt nicht ein guter Moment, dieses Thema noch einmal aus der Schublade zu holen und in Ruhe zu klären, warum wir gerade 2023 ganz besonders darüber diskutieren müssen?!

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Sexuelle Bildung und queer-feministische Kämpfe

Gastbeitrag von Julia Tajariol und Lena Jahn

Eine Sonnenblume mit Frauenkörper und der Schriftzug "Always Room to Grow" auf einem Elektrizitätswerk.
Foto von Kyle Glenn auf Unsplash

Wie kann sexuelle Bildung queer-feministische Kämpfe unterstützen?

Wir sind das sexualpädagogische Projekt unzensiert! und haben uns u.a. der sexuellen Bildung von Erwachsenen verschrieben. In diesem Beitrag setzen wir uns mit der Frage auseinander, wie sexuelle Bildung queerfeministische Kämpfe unterstützen kann. Bevor wir diese Frage beantworten, wollen wir uns zunächst anschauen, wofür es überhaupt sexuelle Bildung braucht und was ein Mangel an sexueller Bildung mit der Aufrechterhaltung patriarchaler Verhältnisse zu tun hat.

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Alltag

Gedanken zu den Weihnachtsfeiertagen – wieso es nicht nur die wunderbarste Zeit des Jahres ist

Kommentar von Clara Sophie Bitter und Stefanie Hofer

Photo by Scott Webb on Pexels.com

Weihnachten steht direkt vor der Tür und anlässlich der Feiertage haben sich Stefanie und Clara aus unserem Redaktionsteam über die Herausforderungen unterhalten, die die Weihnachtszeit mit sich bringen kann. Auf Grundlage dieses Gesprächs ist der folgende Beitrag entstanden. 

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Antikapitalistische Gedanken zum „Fest der Liebe“

Beitrag von Magdalena Lohfeyer

Photo by Dzenina Lukac on Pexels.com

Aufwendige Lichtinstallationen, Glühweinstände und prächtig dekorierte Schaufenster erinnern uns jedes Jahr daran, dass Weihnachten vor der Tür steht. Wird es sich in Zeiten von zunehmenden Krisen – Klimakrise, Energiekrise, Inflationskrise – anders anfühlen? Ein Spaziergang durch die Innsbrucker Altstadt lässt von Krisen nichts vermuten. Der Swarovski-Weihnachtsbaum am Marktplatz und die Lichter-Dekoration in den Straßen der Stadt leuchten so hell wie immer, während sich die Geschäfte auf den Ansturm der nächsten Wochen vorbereiten. Wie die Jahre zuvor komme ich nicht umher von dem Trubel der Weihnachtszeit fasziniert zu sein. Dieses Jahr habe ich dieser Faszination einen Text gewidmet und mit Menschen aus Innsbruck über Weihnachten, Konsum und Alternativen gesprochen.

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Alltag

Von der Transgender Awareness Week zur radikalen trans* Awareness

Gastbeitrag von Zoe* Steinsberger

Demo-Banner mit dem Aufdruck "Trans Revolution" in den Farben der trans-Flagge.
presse-service.at

Diese Woche ist Transgender Awareness Week. Transgender Awareness Week, so eine der vielzitierten Definitionen, zielt darauf, „[to] raise the visibility of transgender people and address issues members of the community face“.1 Transgender Awareness Week ist hier, wie in so vielen vergleichbaren Statements auf Webseiten großer LGBTIAQ Organisationen aus Großbritannien und den ehemaligen britischen Siedlerkolonien (Kanada, USA, Australien), doppelt bestimmt. Sichtbarkeit erscheint hier als zentrales Paradigma, ebenso wie die Community, deren Anliegen thematisiert werden sollen.

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Intersex Awareness Day –Geschichten aus einem unsichtbaren Alltag

Gastbeitrag von Ronja Ziesel

Fahne für Intergeschlechtlichkeit, lilafarbener Kreis auf gelben Untergrund.
Pexels (Katie Rainbow)

Am 26. Oktober ist nicht nur Nationalfeiertag, sondern auch der Intersex Awareness Day – ein Tag, an dem inter* Menschen weltweit für Bewusstsein und Anerkennung kämpfen. Wir möchten heute also mit einem Gastbeitrag in Form eines Erfahrungsberichts auf die Herausforderungen aufmerksam machen, die inter* Personen regelmäßig begegnen. Auch, weil inter* Personen die angesprochene Anerkennung trotz unermüdlichem Aktivismus noch immer nicht zukommt.