Gastbeitrag von Julia Tajariol und Lena Jahn

Wie kann sexuelle Bildung queer-feministische Kämpfe unterstützen?
Wir sind das sexualpädagogische Projekt unzensiert! und haben uns u.a. der sexuellen Bildung von Erwachsenen verschrieben. In diesem Beitrag setzen wir uns mit der Frage auseinander, wie sexuelle Bildung queer–feministische Kämpfe unterstützen kann. Bevor wir diese Frage beantworten, wollen wir uns zunächst anschauen, wofür es überhaupt sexuelle Bildung braucht und was ein Mangel an sexueller Bildung mit der Aufrechterhaltung patriarchaler Verhältnisse zu tun hat.
Warum braucht es überhaupt sexuelle Bildung?
Sexuelle Bildung oder Sexualpädagogik – das sind Begriffe, die viele vermutlich mit „Sexualkundeunterricht“ für Kinder und Jugendliche an der Schule verbinden. Wenn wir in unserem Freund*innen- und Bekanntenkreis herumfragen, hören wir immer das gleiche: Kondome über Bananen, Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten und Schwangerschaftsverhütung – lange sah Sexualpädagogik genauso aus. Korrekte anatomische Abbildungen der Vulva, geschweige denn der Klitoris?1 Sprechen über Sexualität, Identität, Gender, Emotionen, Konsens, Grenzen, Lust, Masturbation und Beziehung(en)? Fehlanzeige. Damit ging es (und geht es häufig auch heute noch) im „Sexualkundeunterricht“ weniger um Sexualität und alles, was dazu gehört, sondern vielmehr darum, Schüler*innen zu vermitteln, welche negativen Konsequenzen Sex haben kann und weshalb er daher möglichst lange ausgespart werden sollte. Inadäquater „Sexualkundeunterricht“ kann Kinder und Jugendliche damit verunsichern und mit genauso vielen Fragen wie zuvor hinterlassen, weshalb ihr Wissen um Sexualität vielfach durch Mythen und Medien geprägt ist. Und was ist eigentlich mit Erwachsenen? Sexuelle Entwicklung ist ein lebenslanger Prozess und Menschen können in jedem Lebensabschnitt neuen Herausforderungen, Bedürfnissen und Fragen begegnen.2 Und doch wird im Alltagsverständnis davon ausgegangen, dass Menschen, spätestens wenn sie ihre „erwachsene Reife“ erreicht haben, wie selbstverständlich wissen, wie sie mit Fragen rund um Sexualität, Körperlichkeit, Identität und Beziehung(en) umzugehen haben. Wir dürfen aufatmen, denn: dem ist nicht so! Das alles sind Themen, mit denen wir uns stets aufs Neue auseinandersetzen dürfen! Die Aufgabe sexueller Bildung ist also nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern Menschen in einer möglichst selbstbestimmten Identitätsentwicklung zu unterstützen und ihre Kompetenzen zu stärken, um die eigene Sexualität selbstbestimmt zu gestalten.3
So weit, so klar, hoffen wir. Wenn wir damit (zugegebenermaßen sehr kurz) umrissen haben, weshalb sexuelle Bildung in jeder Altersstufe essenziell ist, stellt sich nun die Frage, weshalb vielerorts noch immer ein Mangel an selbstverständlichen Angeboten der sexuellen Bildung besteht?4 Und was hat das ganze nun mit queer-feministischen Kämpfen zu tun?
Sexuelle Bildung ist dem Patriarchat ein Dorn im Auge
Um diese Frage zu beantworten, gilt es, uns zu vergegenwärtigen, wie unsere Gesellschaft gestaltet ist. Wir leben im Patriarchat, das heißt in einer Gesellschaftsordnung, in der das endo cis Männliche die Vorherrschaft5 und Macht innehat. Die Legitimierung der Macht patriarchaler Verhältnisse beruht dabei auf der Annahme, dass es nur zwei Geschlechter (endo cis männlich und endo cis weiblich) gebe. Dabei sei das endo cis Männliche einer natürlichen Ordnung folgend dem endo cis Weiblichen übergeordnet. Beide Geschlechter begehren zudem ausschließlich einander. Alle L(i)ebensweisen, die von diesen Annahmen abweichen, müssen abgewertet, diskriminiert und ausgeschlossen werden, um jene Gesellschaftsordnung aufrecht zu erhalten. Die Aufrechterhaltung der endo cis männlichen Herrschaft wird nur dadurch ermöglicht, dass nicht endo cis männliche Personen ausgebeutet werden. Die bürgerliche Ehe und Kleinfamilie ist dafür ein zentrales Beispiel. Indem Frauen Care- und Sorgearbeit übernehmen, halten sie Männern den Rücken frei. Auch Sexualität und Beziehungen sind im Patriarchat streng kontrolliert und orientieren sich an den Bedürfnissen von endo cis Männern. Diese Ordnung funktioniert solange „gut“, solange Menschen nicht von den Geschlechterrollen und heteronormativen Vorgaben abweichen. Menschen, die sich jedoch nicht in einer binären Geschlechterordnung verorten können oder wollen und/oder die heteronormative L(i)ebensweisen ablehnen, stellen damit eine Bedrohung dar – nicht nur für das tragende Konstrukt der Ehe und Kleinfamilie, sondern für die gesamte Gesellschaftsordnung des Patriarchats. Das bedeutet auch, dass es im Interesse der endo cis männlichen Herrschaft unabdingbar ist, dass heteronormative Lebensweise, eine binäre Geschlechterordnung und damit entstehende Abhängigkeitsverhältnisse aufrecht erhalten bleiben. Eine sexuelle Bildung, die das Ziel verfolgen soll, patriarchale Verhältnisse aufrechtzuerhalten, kann nur auf Mythen und Wissensverweigerung beruhen, sonst wird sie dem Patriarchat ein Dorn im Auge.
Ja… und was hat das nun mit queer-feministischen Kämpfen zu tun?
Wenn inadäquate sexuelle Bildung der Aufrechterhaltung patriarchaler Verhältnisse dienen kann, dann kann sie in kritisch-reflexiver Form gleichermaßen der Entmächtigung des Patriarchats dienen. Versteht sich sexuelle Bildung als machtkritische Praxis, kann sie damit zu einem wichtigen Werkzeug queer-feministischer Kämpfe werden. Queer-feministische Kämpfe verfolgen unter anderem das Ziel, patriarchale Verhältnisse zu entmächtigen und Gerechtigkeit für ALLE Menschen zu erzielen. Dafür werden u.a. heteronormative Lebensweisen und die binäre Geschlechterordnung hinterfragt und untersucht, wem deren Fortbestehen dient und wie diese Ordnung durchbrochen werden kann.6,7 Eine kritisch-reflexive sexuelle Bildung8 hat das Potenzial, an dieser Stelle anzusetzen, indem sie nicht-endo-cis-männliche Personen und Positionen stärkt und damit den Zwang toxischer Geschlechterrollen sowie heteronormativer L(i)ebens- und Begehrensweisen aufbrechen kann. Angesetzt im Kindesalter hat sexuelle Bildung, die queer-feministische Werte vermittelt, das Potenzial, bereits Kindern zu zeigen, wie vielfältig Identitäten, Sexualität, Körper, Beziehungen und Lebensweisen sein können und wie Menschen miteinander umgehen können, ohne die Grenzen des Gegenübers gewaltvoll zu überschreiten.9 Denn wenn Kinder in unserer Gesellschaft aufwachsen, ist ihnen oft gar nicht bewusst, dass es andere Optionen gibt und dass sie selbst entscheiden dürfen, wie sie leben wollen. Es ist unsere Aufgabe, ihnen diese Optionen aufzuzeigen. Während wir die Chance haben, Kindern jenes Wissen von vorneherein zu vermitteln, gilt es für uns Erwachsene vor allem vermeintliche Wahrheiten und als natürlich dargestellte Gegebenheiten zu verlernen – und Neues zu erlernen.
Altersunabhängiger Zugang zu sexueller Bildung als Chance
Das Ziel qualitativ hochwertiger, sexueller Bildung ist es, Menschen in ihrer sexuellen Selbstbestimmtheit und ihrer Gestaltung von Beziehung(en) zu stärken und die Diversität dieser abzubilden. Denn nur durch die Bekämpfung starrer, patriarchaler Vorstellungen von Sexualität und Beziehung(en) können Menschen in all ihrer Individualität unterstützt und gestärkt werden. Dies gilt für Kinder und Jugendliche, die gerade dabei sind, sich selbst und ihre Sexualität zu entdecken. Aber auch darüber hinaus. Denn sexuelle Entwicklung ist ein lebenslanger Prozess und in jeder Phase des Lebens dürfen Menschen Neues über sich und ihre Sexualität erfahren, sich weiterentwickeln und die Ketten der patriarchalen Normen sprengen. Ein geschützter Raum, indem diese Prozesse begleitet und gefördert werden, kann die sexuelle Bildung zur Verfügung stellen. Zur Unterstützung individueller, queer-feministischer Kämpfe, die im Endeffekt das ganze System zum Wanken bringen können.
Zu den Autor*innen
Julia Tajariol ist Erziehungs- und Bildungswissenschaftlerin mit den Schwerpunkten Gender, Sexualität und Dis/Ability. Nach mehreren Jahren in der Krisenintervention und als Trainerin in der informellen Jugendarbeit widmet sie ihre Aufmerksamkeit nun voll und ganz der sexuellen Bildung und Beratung.
Lena Jahn ist Psychologin und ist darauf geschult Menschen durch kritische Lebensereignisse zu begleiten. Innerhalb ihrer beruflichen Tätigkeit begleitet sie Menschen mit körperlichen und neurologischen Beeinträchtigungen und/oder psychiatrischen Erkrankungen. Die sexuelle Bildung und Beratung ist daneben ihre Herzensangelegenheit, die sie durch das Projekt unzensiert! nun verwirklichen darf.
Unzensiert! ist ein Projekt zur sexuellen Bildung von Erwachsenen. Aktuell veranstalten wir u.a. Workshops und wollen darin gemeinsam mit den Teilnehmenden einen Raum eröffnen, um unzensiert über Themen der Sexualität, Körperlichkeit, Geschlecht/Gender und Beziehung zu sprechen. Wir bieten dabei einen Rahmen, in dem Wissen vermittelt, Erfahrungen ausgetauscht und mit Mythen rund um Sexualität, Körper und Geschlecht aufgeräumt wird, um realistische Alternativen anzubieten. So entsteht Raum dafür, Bedürfnisse und Grenzen wahrnehmen und achten zu lernen – die eigenen, wie die der anderen.
Quellen & Anmerkungen:
1 Eine korrekte Abbildung der Klitoris hat es erst 2022 in deutsche und österreichische Schulbücher geschafft (vgl. diverse Tagesmedien wie taz, DiePresse, Dlf uvm.).
2 Böhm, M., Kopitzke E., Herrath, F., Sielert, U. (2022): Sexuelle Bildung – ein Leben lang. Aufgaben und Inhalte sexueller Bildung im Erwachsenenalter. In: Böhm, M., Kopitzke, E., Herrath F., Sielert, U. (Hrsg.): Praxishandbuch. Sexuelle Bildung im Erwachsenenalter. Weinheim/Basel: Beltz Juventa. S. 9.
3 vgl. Sielert, U. (2018): Sexualpädagogik. In: Gender Glossar. https://www.gender-glossar.de/post/sexualpaedagogik (Abfrage: 22.03.2023).
4 Während Sexualpädagogik in Österreich als eines der Unterrichtsprinzipien in den Curricula verankert ist, liegt die Verantwortung darüber, wie und durch wen Wissen vermittelt wird, bei den Lehrkräften (vgl. https://rundschreiben.bmbwf.gv.at/rundschreiben/?id=699 BMBWF 2015, 2022). Außerschulische Angebote sowie Angebote für Erwachsene sind gegenwärtig noch keine Selbstverständlichkeit (vgl. Sielert 2022).
Sielert, U. (2022): Sexuelle Bildung im Erwachsenenalter – Eine ‚Reisebegleitung‘. In: Böhm, M., Kopitzke, E., Herrath F., Sielert, U. (Hrsg.): Praxishandbuch. Sexuelle Bildung im Erwachsenenalter. Weinheim/Basel: Beltz Juventa. S. 22-38.
5 Mehr zur männlichen Herrschaft findet sich hier: https://www.gender-glossar.de/post/maennliche-herrschaft
6 vgl. Laufenberg, M. (2020): Was ist queer? In: Rendtorff, B., Mahs, C., Warmuth A.D. (Hrsg.): Geschlechterverwirrungen. Was wir wissen, was wir glauben und was nicht stimmt. Frankfurt/New York: Campus Verlag, S. 188f.
7 Bestehende Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse können nicht nur durch die Strukturkategorie gender erklärt werden, sondern müssen einer intersektionalen Analyse unterzogen werden müssen. Das bedeutet, dass nicht nur die Kategorie Geschlecht als eine erkannt wird, durch die Menschen im Patriarchat Unterdrückung erfahren, sondern dass weitere Strukturkategorien, wie race, class, age, dis/ability etc., die Diskriminierungserfahrungen von Menschen prägen. Dabei lassen sich Benachteiligungserfahrungen nicht einfach addieren, sondern ergeben in Wechselwirkung miteinander komplexe Diskriminierungserfahrungen (vgl. Busche et al. 2022, S. 87). Queer-feministische Kämpfe müssen sich deshalb immer auch als Kämpfe gegen geschlechtliche und heterosexuelle UND rassistische, ableistische, klassistische und altersbezogene Unterdrückung richten. Das gleiche gilt auch für eine kritisch-reflexive sexuelle Bildung. Dabei hat sie die Aufgabe sich damit auseinanderzusetzen, in welcher Weise sexuelle Bildung bestehende Machtverhältnisse (re-)produziert (vgl. ebd., S. 91). Wie eine dekolonisierende und antirassistische Ausrichtung sexueller Bildung aussehen kann, beschreiben Busche et al. 2022.
Busche, M., Hartmann, J., Bayramoglu, Y. (2022): Intersektionale sexuelle Bildung – machtkritisch, dekonstruktiv und dekolonialisierend. In: Böhm, M., Kopitzke, E., Herrath F., Sielert, U. (Hrsg.): Praxishandbuch. Sexuelle Bildung im Erwachsenenalter. Weinheim/Basel: Beltz Juventa. S. 87-103.
8 vgl. Sielert (2018)
9 Tuider, E., Müller, M., Timmermanns, S., Bruns-Bachmann P., Koppermann, C. (2012): Sexualpädagogik der Vielfalt. Praxismethoden zu Identitäten, Beziehungen, Körper und Prävention für Schule und Jugendarbeit. 2. Aufl. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, S. 18ff.