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Wissenschaft

Die richtige Dosis „Gendermedizin“?

Text von Felix Lene Ihrig

Über dem offenen Rand einer braunen kleinen Flasche ist eine mit einer gelben Flüssigkeit gefüllte Pipette zu sehen. Der HIntergrund ist weiß.
©pexels

Am 7. April ist Weltgesundheitstag. Dieser soll an die Gründung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1948 erinnern. Jedes Jahr steht der Tag unter einem anderen Motto.1 Dieses Jahr ist es „Our Planet, our Health“, denn die Klimakrise bringt mit Temperaturveränderungen, Naturkatastrophen und Wasserknappheit auch einige Gesundheitsrisiken mit sich.2 Mehr zum Thema Feminismus & Klimakrise haben wir zum 8. März gebloggt, hier könnt ihr den Beitrag nachlesen. Für den heutigen Beitrag haben wir mit Margarethe Hochleitner, Professorin für Medizin und Diversität an der Medizinischen Universität Innsbruck (MUI) über ihre Erkenntnisse der letzten 30 Jahre „Frauengesundheit“ gesprochen.  Dieser Text ist eine Zusammenfassung ihrer Erfahrungen und aktueller Forschung zu „Queer Health“.

Aus queerfeministischer und intersektionaler Perspektive sind zum Thema „Gesundheit“ vor allem zwei Aspekte wichtig: 1. Wird die Prämisse, jede Person solle die Gesundheitsversorgung bekommen, die sie braucht, wirklich eingehalten? Und 2. Was ist eigentlich Gesundheit?

Was ist eigentlich „Gesundheit“?

Aus wissenschaftlicher Perspektive ist Gesundheit nicht nur die momentane Abwesenheit von Krankheit, sondern ein lebenslanger Prozess mit körperlich oder psychisch belastenden Umständen umzugehen und Wohlbefinden zu erleben.3 In der Fachsprache wird dies auch ‚Salutogenese‘ genannt. Nach dieser Definition haben wir immer „gesunde“ und „kranke“ Anteile in uns und es kommt besonders auf Prävention und Ressourcenförderung bzw. –verteilung an, um mit Stress umgehen zu können. Daher tragen auch scheinbar weit entfernte Bereiche zu Gesundheit bei, wie z.B. der Mental Load, also die Übernahme von organisatorischen und anderen Hintergrund- und Denkaufgaben, die es in einer Gemeinschaft (Familie, Partnerschaft etc.) zu erfüllen gibt.

Soziale Normen und besonders Themen die gesellschaftlich tabuisiert sind, können im Verborgenen eine große Wirkung auf das Wohlbefinden vieler Menschen entfalten. Wenn das Sprechen über Themen wie Sucht, Sexualität, Armut oder Alter tabuisiert ist, ist ein gesundheitsförderlicher Umgang damit nicht nur schwierig, sondern für manche Personen sogar unmöglich.4 Besonders dann, wenn mehrere marginalisierte Perspektiven in einer Person zusammenkommen.

Datenlücken in der medizinischen Forschung

Die derzeitige medizinische Praxis hat sich dem evidenzbasierten Arbeiten verschrieben. Das heißt, Prävention, Diagnose und Behandlung folgen wissenschaftlich gesicherten Methoden, die immer weiterentwickelt und sich von praktizierenden Mediziner*innen kontinuierlich angeeignet werden sollten.5 Hierzu ist umfangreiche Forschung notwendig, die möglichst breit gefächerte Informationen über diverse Zusammenhänge liefert. Doch wenn Menschen über viele Tabu-Themen kaum sprechen, wie sollen dann gesicherte Informationen an die Wissenschaft und Medizin gelangen? Hinzu kommt, dass die Probanden medizinischer Studien über viele Jahrzehnte hauptsächlich mittleren Alters, weiß und cis männlich waren.6 Denn diese Gruppe war aufgrund ihres gesellschaftlichen Status besonders leicht zugänglich und ihre Einbindung in die Forschung am kostengünstigsten. Frauen, People of Color und andere marginalisierte Gruppen wurden schlichtweg vergessen. Dies hat sich in den letzten Jahrzehnten geändert und so müssen klinische Studien inzwischen verpflichtend zumindest Frauen und Männer einbeziehen. Doch inwieweit die gesetzlichen Vorgaben eingehalten werden ist, z.B. bei Eilzulassungen (wie der Covid-19-Impfung), fraglich. Hinzu kommt ein hoher Leistungsdruck für Forschende, der zu schnellen Publikationen und ‚gatekeeping‘ führt. Im Forschungskontext bezieht sich gatekeeping vor allem darauf, welche Forschungsergebnisse anerkannt werden, wessen Projekte finanziert werden und welche inoffiziellen Standards für Forschungsansätze gelten.7 Und so gibt es trotz gesetzlicher Vorgaben nach wie vor enorme Datenlücken bezüglich einiger Gesellschaftsgruppen.

„Frauengesundheit“ und „Männergesundheit

„Frauengesundheit“ –  als bewusstes Hinterfragen medizinischer Standards in Bezug auf Frauen und daraus folgender Behandlung –  ist inzwischen seit über 30 Jahren ein Thema und in manchen Fachgebieten wie z.B. Kardiologie und Neurowissenschaften sind die Datenlücken größtenteils gefüllt worden. Doch es fehlen nach wie vor Dosierungsempfehlungen für Medikamente für Frauen. Im Frauengesundheitszentrum Innsbruck berichten Patientinnen beispielsweise immer wieder, dass sie je nach Zyklusphase mehr oder weniger Schmerzmittel für denselben Effekt brauchen. Die Datenlage hierzu ist laut Hochleitner jedoch dürftig.

Im Gegensatz zu „Frauengesundheit“ hat sich der Begriff „Männergesundheit“ erst in den letzten Jahren etabliert, zuvor war diese ja der Standard für alle Geschlechter gewesen. Dass es auch für Männer spezifische Forschung und Angebote braucht, wurde lange vernachlässigt. Beispielsweise werden Selbsthilfegruppen größtenteils von Frauen organisiert und besucht. Um Prävention und Nachsorge für Männer sicherzustellen, scheint es also andere Zugänge zu brauchen. Laut Hochleitner helfen hier homogene Gruppen (z.B. nach ethnischer Zugehörigkeit, im beruflichen Umfeld usw.) oder „Partnerkurse“.

Queer Health ist noch lückenhaft

Eine Gruppe, deren Gesundheitsversorgung bisher kaum Beachtung fand und die erst seit Kurzem wissenschaftlich betrachtet wird, sind queere Personen. Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung scheinen zwar auf den ersten Blick nicht direkt mit Gesundheit verknüpft zu sein, können jedoch aufgrund von Diskriminierungsstrukturen und Ausgrenzungsmechanismen zu wichtigen Gesundheitsfaktoren werden. Häufig ist der ausschlaggebende Punkt „Minderheitenstress“, also ein erhöhtes Stressempfinden durch die Tatsache, einer marginalisierten Gruppe anzugehören und damit Diskriminierung oder der Angst davor ausgesetzt zu sein. Es gilt also in der Gesundheitsversorgung auch darauf zu achten. In fünf österreichischen Bundesländern gibt es seit einigen Jahren sogenannte „Transambulanzen“, also klinikinterne Beratungsangebote für trans Personen8 und die LGBTIQ+ Forschung weist immer häufiger darauf hin, dass queere Personen spezifische Bedürfnisse in der Gesundheitsversorgung haben. Doch allein das Vorhandensein dieser Beratungsangebote bedeutet noch nicht, dass Mediziner*innen (besonders außerhalb dieser Beratungsangebote) entsprechend sensibel mit der Thematik umgehen und die Bedürfnisse ihrer Patient*innen tatsächlich erkennen und einbeziehen. Auch, weil die Datenlage zur queeren und trans Community noch recht dürftig ist. Die meiste klinische Forschung zu queeren Personen findet in eben jenem Beratungskontext statt und somit stehen die Proband*innen in einem Abhängigkeitsverhältnis zu den Behandelnden und Forschenden.9 Dies kann zu Verzerrungseffekten bei medizinischen Studien führen.

Bekommt jede Person die Gesundheitsversorgung, die sie braucht?

In diesem Kontext wird vor allem die zu Beginn gestellte Frage nach der „benötigten Gesundheitsversorgung“ relevant. Prinzipiell gilt in der Medizin, dass jene Behandlungen Vorrang haben, die überlebensnotwendig sind. Dies ist vor allem eine Ressourcenfrage. Zudem müssen Risiko und Nutzen, beispielsweise von Operationen, gegeneinander abgewogen werden. Doch wie steht es um die Bedeutung von „Überleben“ gegenüber jener eines stressfreien und glücklichen Lebens?  Welche Rolle spielt die Salutogenese in der Ressourcenvergabe der medizinischen Praxis wirklich? Ist ein langes Leben wirklich mehr wert als ein glückliches Leben? Diese sehr philosophischen Fragen können wir in diesem Blog leider nicht beantworten, wenn sie denn überhaupt beantwortbar sind. Doch gerade trans Personen leiden unter diesen Prinzipien, wenn Operationen, die ihre Lebensqualität enorm verbessern würden, als nicht notwendig eingestuft werden. Bei einer Gruppe, deren psychische Gesundheit beispielsweise mit stark erhöhten Suizidraten alarmierend ist, sind „nicht notwendige“ Operationen eben doch häufig überlebensnotwendig.10, 11

Hier zeigen sich auch politischen Aspekte der Medizin. Der Spielraum, den Mediziner*innen in der Praxis haben, wird zu einem großen Anteil von politischen Gegebenheiten und moralischen Vorstellungen geprägt. Auch wenn die Praxis glücklicherweise manchmal sensibler ist als es die rechtlichen Vorschriften vorgeben, tut sich hier doch ein großes Diskussionsfeld auf.

Quellen:

1. BVPG. Informationen zum Weltgesundheitstag. https://www.weltgesundheitstag.de/cms/index.asp?wgt-who. (Zugriff am 01.04.2022)

2. BVPG. Informationen zum Weltgesundheitstag 2022. https://www.weltgesundheitstag.de/cms/index.asp?inst=wgt-who&snr=13552&t=2022%A7%A7Klimawandel+und+Gesundheit. (Zugriff am 01.04.2022)

3. Schwarz, W. Antonovskys „Gesundheitsmodell“. In: Gesundheits- und Krankheitslehre. Berlin: Springer, 2013.

4. Färber, C. Sexuelle Gesundheit von Frauen und Männern aus afrikanisch-deutscher Perspektive: Zur Dekolonialisierung von Kultur und Geschlecht in der Gesundheitsförderung. Leverkusen: Verlag Barbara Budrich, 2018. S.79

5. Masic, I., Miokovic, M., & Muhamedagic, B. „Evidence based medicine – new approaches and challenges.“ AIM : journal of the Society for Medical Informatics of Bosnia & Herzegovina : casopis Drustva za medicinsku informatiku BiH, 16, 4, (2018), S. 219–225.

6. Criado-Perez, C. Unsichtbare Frauen: Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert. München: btb Verlag, 2020.

7. Rossiter, M. „The Matilda Effect in Science“. Social Studies of Science 23/1993, S. 325-341.

8. TTA. Transambulanzen. Zugriff 01.04.2022 http://transgender-team.at/infos/transambulanzen/

9. Hamm, J. Trans* und Sex: gelingende Sexualität zwischen Selbstannahme, Normüberwindung und Kongruenzerleben. Gießen: Psychosozial-Verlag, 2020.

10. Clements-Nolle K, Marx R, Katz M. „Attempted suicide among transgender persons: The influence of gender-based discrimination and victimization.“ J Homosex ; 51 (2006): S. 53-69

11. Budge SL, Adelson JL, Howard KAS. „Anxiety and depression in transgender individuals: the roles of transition status, loss, social support, and coping“. J Consult Clin Psychol; 81 (2013): S. 545-557

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