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Autismus: Von extremer Männlichkeit und weiblicher Unsichtbarkeit im Spektrum

Text von Magdalena Lohfeyer

ein Rand aus verschiedenfarbigen  Puzzleteilen scheint sich aufzulösen, weil an manchen Stellen Teile fehlen, die in der Mitte des Bildes schweben. Der Hintergrund ist weiß. Unten steht "Autism Awareness Day 2. April"
© Pixabay

Stereotype Darstellungen von autistischen Verhaltensweisen begegnen uns in den Medien immer häufiger, etwa als Sherlock Holmes, Rain Man oder Sheldon Cooper in der Serie ‚The Big Bang Theory‘. Auffällig oft handelt es sich dabei um männliche Charaktere. Das Zusammenwirken von Autismus und Geschlecht ist auch das Thema dieses Beitrages zum Welt-Autismus-Tag am 02. April, der sich mit dem Autismus-Spektrum an sich und mit der Un_Sichtbarkeit von Frauen* und Männern* in diesem Spektrum beschäftigt.

Das Autismus-Spektrum – Definitionen, Diagnosen, Kontroversen

Während Autismus bisher von der World Health Organisation als „Tiefgreifende Entwicklungsstörung“ eingestuft wurde, ist in der neuen Klassifikation der Krankheiten und verwandten Gesundheitsprobleme nun von „Autismus-Spektrum-Störungen“ die Rede.1 Autismus-Spektrum-Störungen können sich durch Defizite in der wechselseitigen Kommunikation und im Sozialverhalten, sich wiederholenden Verhaltensweisen, dem Festhalten an Routinen oder Ritualen und besonderen Interessen äußern. Unvorhergesehene Veränderungen oder Überforderungen im Alltag können für autistische Menschen eine große Herausforderung darstellen. Der Begriff des „Spektrums“ verweist darauf wie vielfältig und unterschiedlich die Ausprägungen des Autismus sein können und wie vielfältig entsprechend auch die Bedürfnisse von autistischen Menschen sind.2

Die Zahl an diagnostizierten Menschen im Autismus-Spektrum steigt weltweit an, was einerseits mit neuen Diagnosekriterien und einem gestiegenen Bewusstsein einhergeht, andererseits wird versucht den Anstieg über verschiedenste Umwelteinflüsse zu erklären.3 Ohnehin bleibt viel Spielraum für Interpretationen da Autismus und das dazugehörige Spektrum weder sichtbar noch klar identifizierbar sind. Die Diagnose wird ausschließlich an kommunikativen, sozialen und stereotypischen Verhaltensweisen festgemacht.4 Mithilfe von sozialen Normen stellen wir Menschen uns aufeinander ein und können Handlungsabläufe in gewohnten Situationen wechselseitig vorhersehen. Menschen mit einer Diagnose aus dem Autismus-Spektrum fallen durch unvorhersehbare Abweichungen von diesen sozialen Normen auf. Dabei sollte jedoch in Betracht gezogen werden, dass diese „Regelmäßigkeit menschlichen Verhaltens“ von uns Menschen künstlich konstruiert ist und sich im Laufe der Zeit wandelt.5 So identifizieren wir historische Persönlichkeiten wie Albert Einstein oder Wolfgang Amadeus Mozart lange nach ihrem Ableben als autistisch, während sie mit ihren Verhaltensweisen zu Lebzeiten nicht als „abnormal“ auffielen. Hinzu kommt, dass soziale Normen und Verhaltensweisen an verschiedenen Orten unterschiedliche Bedeutungen zukommen, sei es etwa der Blickkontakt oder die Auseinandersetzung mit sehr spezifischen Interessen und Themengebieten. Und auch in diversen Situationen in denen etwa Hierarchien und Kontrollen eine Rolle spielen, können Verhaltensweisen von verschiedenen Personen sehr unterschiedlich beurteilt werden. Inwiefern Diagnosekriterien für Autismus-Spektrum-Störungen als universell gelten können, mag folglich hinterfragt werden.6

Während also das Bewusstsein über das Spektrum Autismus zunimmt und damit einhergehend mehr Interesse und Geld in Forschung und Behandlungsmöglichkeiten investiert wird, ertönt auch Kritik. So wird die Diagnose als exemplarisch dafür gesehen, wie menschliches Verhalten klassifiziert wird. Inwiefern Autismus also tatsächlich einer Störung oder doch einem Phänomen gleichkommt, welches sich ausschließlich über die Abweichung vom Erwarteten in einer von Normen durchzogenen Gesellschaft definiert, kann debattiert werden. 7 Nichtsdestotrotz sind Menschen im Autismus-Spektrum mit Barrieren und Herausforderungen konfrontiert. Das kann der Fall sein im Umgang mit „neurotypischen“ Personen, ungeeigneten Anforderungen und Erwartungen in Bildungsinstitutionen oder mit Reizüberflutungen am Arbeitsplatz.8 In der Folge können sich Menschen im Autismus-Spektrum gezwungen sehen Mimik oder Gesten ihrer Mitmenschen nachzuahmen. Das sogenannte „Masking“ (engl. für Maskieren) stellt dabei eine sehr effektive Strategie zur Bewältigung von Aufgaben des täglichen Lebens dar.9 Jedoch geht das Nachahmen von sogenannten „neurotypischen Verhalten“ für autistische Menschen in der Regel mit einer großen Anstrengung einher, insbesondere weil es meist über einen sehr langen Zeitraum hinweg geschieht.10 Im Hinblick auf die Notwendigkeit von Masking und die erwähnten Barrieren, kann eine Diagnose für Betroffene und deren Umfeld trotz nicht-universeller Diagnosekriterien hilfreich sein, um (Selbst-)Verständnis zu schaffen und bei Bedarf Unterstützungsangebote in Anspruch zu nehmen.

Zunehmenden Raum in Bezug auf Diagnosen aus dem Autismus-Spektrum nimmt auch das Thema Geschlecht ein, etwa in Hinblick auf Neurodiversität bei queeren und trans* Menschen und Geschlechterverhältnisse in binären Sinn. Die herangezogenen Untersuchungen in diesem Beitrag legen den Fokus auf Zweiteres und beschäftigen sich mit dem ungleichen Verhältnis von einem autistischen Mädchen* zu sechs bis acht autistischen Jungen*, von welchem in der Fachwelt ausgegangen wird.11 Wie lässt sich dieses Ungleichgewicht erklären?

„Autismus als extreme Form der Männlichkeit“

Die zuerst vom österreichischen Kinderarzt Hans Asperger vor rund 80 Jahren formulierte Idee des Autismus als „Extremvariante der Männlichkeit“, wurde in den 1990er-Jahren vom britischen Forscher Baron-Cohen wieder aufgegriffen und seitdem in mehrfachen Studien von ihm untersucht. Die „Extrem Male Brain Theory of Autism”12 soll unter anderem erklären, weshalb es viel mehr Jungen* und Männer* im Autismus-Spektrum gibt als Mädchen* und Frauen*. Die These geht davon aus, dass männliche Föten im Mutterleib Steroidhormonen (Androgenen) ausgesetzt sind und als Folge ein höheres Autismus-Risiko haben. Durch diese hormonelle Belastung wird systematisierendes Verhalten, das in der Regel Männern* zugeschrieben wird, tendenziell verstärkt. Sozialisierendes Verhalten (Empathie), dass als weibliche Fähigkeit gilt, wird verringert. Folglich befänden sich Männer* bereits zu einem Teil im Spektrum und als Folge einer solchen Hormon-Belastung kann dies verstärkt werden und zu einer entsprechenden Diagnose aus dem Autismus-Spektrum führen.

Baron-Cohens Untersuchungen stoßen auf viel Kritik. Einerseits werden die Herangehensweisen und Umsetzungen seiner Experimente bemängelt13, andererseits sei die Vorstellung, dass es Menschen im Autismus-Spektrum an Empathie mangle, grundlegend falsch und die Ergebnisse daher nicht aussagekräftig.14 Mit seinem Ansatz des männlichen Systematikers und der weiblichen Empathikerin berührt Baron-Cohens Ansatz auch einen spannenden Aspekt der Geschlechterforschung: Inwiefern sind Geschlechtsunterschiede Effekte unterschiedlicher Erziehung oder biologisch bedingte Unterschiede?

Unsichtbarkeit von Mädchen* und Frauen* im Autismus-Spektrum

Eine andere Erklärung für das Geschlechterverhältnis bei Diagnosen im Autismus-Spektrum liefert der Blick auf Diagnosekriterien und geschlechtliche Rollenbilder. Zunehmend kommen Debatten auf, die das ungleiche Geschlechterverhältnis in Bezug auf Autismus-Diagnosen hinterfragen und von einer hohen Dunkelziffer bei Autistinnen ausgehen. Dr.in Christine Preißmann, Allgemeinmedizinerin und Autistin, beschäftigt sich mit der Frage, weshalb bei Mädchen* und Frauen* seltener und oft erst später eine Diagnose aus dem Autismus-Spektrum festgestellt wird. Preißmann führt dies auf eine unterschiedliche Ausprägung der autistischen Symptomatik und der starren Fokussierung auf Symptome bei männlichen Autisten zurück. Damit einhergehend spielen gesellschaftliche Erwartungen an Mädchen* und Frauen* eine zentrale Rolle. So seien autistische Mädchen* etwa in der Regel ruhiger und in ihrem Verhalten kontrollierter als autistische Jungen* und fallen in der Folge weniger (negativ) auf. Dieses rückgezogene Verhalten, sowie beispielsweise ein mangelnder Blickkontakt, entspreche damit dem gesellschaftlichen Bild von Frauen* als schüchtern, still und bescheiden. Ein eher unauffälliges und selten störendes Verhalten verlangt in den meisten Fällen nach keinen (sofortigen) Interventionen bzw. Diagnosen. Weiters führt Preißmann an, dass etwa autistische Mädchen* in der Schule soziale Fertigkeiten schneller erlernen und sich im Vergleich zu Jungen* leichter anpassen, also „tarnen“ können, indem sie beispielweise andere Kinder nachahmen oder unauffällig in einer Gruppe mitlaufen. Als Konsequenz erfolgen Diagnosen bei Autistinnen oftmals erst im Erwachsenenalter oder gar nie, was auf eine hohe Dunkelziffer von undiagnostizierten Mädchen* und Frauen* im Autismus-Spektrum schließen lässt.15

Kurzfristige Unterstützung und langfristiges Umdenken

Um Menschen im Autismus-Spektrum im Hier und Jetzt eine bessere Inklusion in die Gesellschaft und ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, muss unter anderem für bedürfnisorientierte und diversitätsfördernde Bildungsangebote und einen barrierefreien Zugang zum Arbeitsmarkt gesorgt werden. Für den Zugang zu Unterstützungsangeboten braucht es in der Regel jedoch eine entsprechende Diagnose. Um bei Mädchen* und Frauen* im Autismus-Spektrum überhaupt erst richtig und früh die Diagnose zu stellen, muss es ein besseres Bewusstsein über unterschiedliche Symptomatiken (Stichwort „Gender Medizin“) und den Einfluss von stereotypischen Geschlechterrollen und Erwartungen geben. Im Anschluss an eine Diagnose bedarf es an individuelle Bedürfnisse angepasste Unterstützungs- und Therapieangebote.

Langfristig braucht es aber ein gesellschaftliches Umdenken, das nicht länger starr an sozialen Normen festhält und Abweichungen mit Störungen gleichsetzt.  Es bedarf einem anderen Verständnis von Neurodiversität in unserer Gesellschaft wie die Professorin Andrea Platte schreibt: „Inklusiv wäre es erst, statt von einem ‚autistische[n] Spektrum [als] Teil der menschlichen Vielfalt’16 von einem unterteilungsfreien ‚Spektrum Mensch‘ zu sprechen […]“.17 Als Folge dieses Umdenkens würden Barrieren für Menschen im Autismus-Spektrum zunehmend abgebaut werden und das individuelle Sein aller ohne Vorbehalte akzeptiert werden. Oder aber die Erweiterung des Konzepts schreitet so weit fort, dass wir bald ohnehin alle in irgendeiner Weise als „autistisch“ gelten und die Diagnose bedeutungslos wird…

Anmerkungen:

Dieser Beitrag wurde von einer neurotypischen (nicht-autistischen) Person verfasst, die mit Menschen im Autismus-Spektrum arbeitet.

Für diesen Beitrag wurden Quellen und Studien herangezogen, welche sich ausschließlich auf das binäre Geschlechtermodell (weiblich/männlich) beziehen. Die Verwendung des Asterisks (Sternchen) soll diese Binarität etwas aufbrechen und für mehr Geschlechtervielfalt Platz schaffen. Nichtsdestotrotz ist das Thema Autismus und Geschlecht in seiner ganzen Vielfalt sehr relevant und wird in näherer Zukunft noch ausführlicher (und queerer) auf unserem Blog thematisiert werden.

Zur weiteren Beschäftigung mit Autismus:

https://www.autistenhilfe.at/

https://autismus-verstehen.de/magazin/

Quellen:

1 World Health Organisation. ICD-11 – International Classification of Diseases 11th Revision. 2022. Zugriff 27.02.2022 https://icd.who.int/en

2 Autismus verstehen e.V. Autismus-Spektrum. 2022. Zugriff 27.02.2022 https://autismus-verstehen.de/autismus/autismus-spektrum/.

3  Weintraub, Karen. Autismus: Tendenz steigend?. 2011. Zugriff 26.02.2022 https://www.spektrum.de/news/tendenz-steigend/1130221

4 Platte, Andrea. „Diagnose Autismus – Plädoyer für eine ‚Aufgabe‘“, in Die Diagnose Autismus im Spiegel inklusiver Widersprüche hrsg. v. A. Platte. S. 16. Weinheim: Beltz Juventa, 2021.

5 Popitz, Heinrich. Soziale Normen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006. S. 64 ff.

6 Platte, Andrea. „Diagnose Autismus – Plädoyer für eine ‚Aufgabe‘“, in Die Diagnose Autismus im Spiegel inklusiver Widersprüche hrsg. v. A. Platte. S. 17. Weinheim: Beltz Juventa, 2021.

7 Platte, Andrea. „Diagnose Autismus – Plädoyer für eine ‚Aufgabe‘“, in Die Diagnose Autismus im Spiegel inklusiver Widersprüche hrsg. v. A. Platte. S. 18. Weinheim: Beltz Juventa, 2021.

8 Preißmann, Christine. „Barrierefreiheit im Alltag für Menschen mit Autismus“. Autismus 84, (2017), S. 6-14. https://www.autismus.de/fileadmin/user_upload/autismus__84_Barrierefreiheit.pdf.

9 Wolf, Konrad. Masking: Menschen im Autismus-Spektrum erzählen vom Stress, sich im Alltag anpassen zu müssen. Juli 2020. Zugriff 27.02.2022 https://www.zeit.de/zett/2020-07/masking-menschen-im-autismus-spektrum-erzaehlen-vom-stress-sich-im-alltag-anpassen-zu-muessen

10 Meyer-Estorf, Christina. „Auffallen um keinen Preis“. Autismus verstehen 21, (2021), S. 7-9.

11 Preißmann, Christine. Überraschend anders – Mädchen & Frauen mit Asperger. Stuttgart: TRIAS, 2013, S. 8.

12 Baron Cohen, Simon. “The extreme male brain theory of autism”, in: Trends in Cognitive Sciences 6, 6 (2002), S. 248-254.

13 McCarthy, Magaret. Extreme male brain theory of autism rests on shaky ground. 2019. Zugriff 27.02.2022 https://www.spectrumnews.org/opinion/viewpoint/extreme-male-brain-theory-of-autism-rests-on-shaky-ground/

14 Subbaraman, Nidhi. Study on ‘extreme male brain’ theory of autism draws critics. 2014. Zugriff 27.02.2022 https://www.spectrumnews.org/news/study-on-extreme-male-brain-theory-of-autism-draws-critics/

15 Preißmann, Christine. Überraschend anders – Mädchen & Frauen mit Asperger. Stuttgart: TRIAS, 2013, S. 8. ff

16 Schmitt, Stefan. ‘Geniale Störung‘: Wir alle sind so anders. 2016. Zugriff 27.02.2022 https://www.zeit.de/2016/43/geniale-stoerung-steve-silberman-autismus

17 Platte, Andrea. „Diagnose Autismus – Plädoyer für eine ‚Aufgabe‘“, in Die Diagnose Autismus im Spiegel inklusiver Widersprüche hrsg. v. A. Platte. S. 38. Weinheim: Beltz Juventa, 2021.

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