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Wissenschaft

Warum die „Festung Europas“ keine neue Erfindung ist

Eine Einleitung zum Thema Eurozentrismus1

Gastbeitrag von Muriel González Athenas

Alte Land- und Seekarte mit vielen Details.

Auch mitten in den Semesterferien freuen wir uns euch einen neuen Beitrag zu einem sehr spannenden Thema präsentieren zu dürfen! Der folgende Gastbeitrag zur Bedeutung und Entstehung von Eurozentrismus wurde von Muriel González Athenas, Universitätsassistent*in am Center für Interdisziplinäre Geschlechterforschung, verfasst.

Bedeutung

Der Begriff des Eurozentrismus stützt sich auf eine Weltsicht, die weitestgehend durch europäische Funktionsweisen, Werte, Geschichten und Geografien geprägt ist und wurde. Die europäischen Kulturen dienen hierbei als Bewertungsmaßstab in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen, die machtvolle Diskurse produzieren, wie beispielsweise in den Wissenschaften. Im Laufe der Kolonialisierung haben Regionen Europas ihre Wertvorstellungen global durchgesetzt und zum Maßstab erklärt.

Es existiert jedoch nicht der eine Eurozentrismus, sondern seine machtvolle Wirkung entfaltet sich durch die sehr unterschiedlichen Europadiskurse, die aber allesamt Europa in den Mittelpunkt stellen. Dabei ist Europa nicht immer ein klar abgegrenzter geographischer Rahmen. Es wirkt deshalb, weil es vermeintlich einheitlich ist oder eine Einheit beschwört. Dabei werden nicht nur Annahmen über Europa getroffen, sondern besonders über Nicht-Europa. Das so konstruierte Nicht-Europa dient zum Vergleich bzw. zur Zentrierung und Höherstellung Europas. Die Machtverhältnisse global zu begreifen, bedeutet eben auch, diese Europazentrierung in ihren historischen Ausmaßen und in ihren Machtdimensionen zu verstehen.

Ich möchte dies anhand von länderkundlichen Diskursen im 18. Jahrhundert deutlich machen. Warum sind dabei Diskurse aus der Zeit der Aufklärung (ca. 1650 – 1800 n.u.Z.) so wichtig? In dieser Zeit entstand die Idee von einem einheitlichen, in sich abgeschlossenen und privilegierten Europa. Hier wird die Rechtfertigung für die Kolonisierung der Welt unter der Führung Europas formuliert.

Geschichtliche Aspekte: Entstehung eines Mythos

Angeblich gab die Entführung von Europa, der Tochter des phönizischen Königs Agenor, seitens Zeus diesem bis dahin unbekannten und barbarischen Erdteil seinen Namen. Bezeichnend ist, dass hier schon die Zentrierung, Zivilisierung und Vergeschlechtlichung (viele sehen in der „Entführung“ die erste Zurichtung über eine Vergewaltigung von „weiblichen Körpern“) Europas angelegt ist. Dieser antike griechische Mythos lebte zum Teil im Mittelalter wieder auf, besonders aber in der Zeit, die sich Renaissance (Wiedergeburt) nennt (ca. 1500 – 1600 v.u.Z.). In dieser historischen Phase lebten die antiken griechischen Mythen wieder auf. Sie wurden zum Teil neu aufgeladen und anders perspektiviert. Europa als klar abgegrenzten und abgeschlossenen Kontinent gab es bis dahin nicht. Weder Grenzen noch Topografien waren bekannt oder von Bedeutung für die auf diesem Erdteil lebenden Menschen. Dies änderte sich in der Renaissance. Aus dem Mythos wird eine auf Europa zentrierte und privilegierte Erzählung. Privilegiert, weil Europa im Vergleich zu anderen Kontinenten als der beste in allen Dingen galt. In deutschsprachigen länderkundlichen Beschreibungen für Reisende, Kaufleute und Gelehrte wurden diese Ideen und Bilder verbreitet. Diese Erzählungen bildeten die Ausformungen bzw. die Ausbuchstabierung von dem, was Europa sein sollte. Sie sind Fundamente der Rechtfertigung von Kolonialismus und Imperialismus.

„Europa“ erfuhr am Ende der Frühen Neuzeit eine Zentralisierung und wurde von europäischen Gelehrten in Abgrenzung zu den anderen Kontinenten zum Vorbildkontinent erhoben. Populäre Länderbeschreibungen, die sich aus geographisch-thematischen Karten und Reiseberichten speisen, verbreiteten diese Vorstellung in der Bevölkerung. Die hier dargelegte Perspektive hatte die Vereindeutigung in den Beschreibungen des Anderen und des Eigenen, die Differenzierung oder Verortung des „Kulturellen“, ihre Hierarchisierung und deren Naturalisierung und damit den Beginn und Vervielfältigung epistemischer Machtbeziehungen im Fokus.

In der Vorstellung von europäischen Gelehrten, Reisenden, Adligen, Kaufleuten sowie zunehmend in gebildeten Schichten war seit dem 18. Jahrhundert die Einteilung der Welt in „Westen“ und „Osten“ oder „Orient“ und „Okzident“ geläufig. Damit wurden relativ ungenau Gebiete identifiziert und klassifiziert.2 Ungenau waren die Einteilungen deshalb, weil nicht immer klar definiert wurde, worauf sie sich bezogen. Dennoch vermittelte der Umgang mit diesen Einteilungen, dass sie auf klar verortbare Realitäten zurückführbar seien. Durch ebendiese Idee eines fest einzugrenzenden „Europas“ entstand jene epistemische Einteilung von „Westen“ und „Osten“. Über den Zeitpunkt der Geburt der Idee „Europa“ ist sich die Forschung nicht einig.3 Als sicher gilt jedoch, dass sich ein Europadiskurs als Vorstellung eines abgegrenzten und einheitlichen Kontinents im 18. Jahrhundert verdichtete und popularisierte.4

Vereinheitlichung und Kategorisierung

Eine weitere Denkfigur, die der Zentrierung ihren Vorschub leistete, ist die diskursive Vereinheitlichung „Europas“, welche Länder auch immer damit gemeint waren. Es wird in der Forschungsliteratur immer wieder betont, wie sich v.a. die unterschiedlichen Rechtssysteme in vielen europäischen Staaten vereinheitlichten. Auch wenn Europa als Einheit ein idealistisches Konstrukt blieb und immer noch ist, vollzogen sich Akkulturationsprozesse, die als Europäisierungsprozesse beschrieben werden können. Akkulturationen können dabei bewusste und gelenkte politische Inszenierungen sowie Transfer- und Austauschprozesse sein. Wolfgang Schmale beispielsweise macht grundsätzlich das 18. Jahrhundert als die Zeit der sich herausbildenden europäischen Kultur im Singular aus. Dies sei insbesondere von den treibenden Akteur*innen eines staatlichen Organisationsmodells ausgegangen. Ein Modell sollte nicht nur Politik, Staat, Verfassung und Recht ordnen, sondern auch dazu dienen, jegliche gesellschaftlichen Bereiche des alltäglichen Lebens zu organisieren. In diesem Jahrhundert entfalteten und erneuerten die europäischen Gesellschaften Kategorien, wie beispielsweise Geschlecht, die bis heute wirkmächtig sind. 

Ein Beispiel für die zunehmende Zentrierung Europas sind die Bilder im Umschlag (Frontispiz) von Atlanten oder Länderbeschreibungen, die zunehmend konsumiert wurden. Ein Klassiker ist die Darstellung der Kontinente durch Frauenfiguren. Dabei sehen wir als erstes Europa in weiblicher Gestalt auf einem Thron sitzend. Zwei weitere Frauenfiguren, die ebenfalls Kontinente symbolisieren, unterwerfen sich ihr. Der Untertitel einer Reihe für Länderbeschreibungen aus dem Jahr 1708 lautet: „Europa komt nichts gleich wie Ihre Staate zeigen. Es muss die ganze Welt vor Ihrer Macht sich neigen“.5 Hier ist schon ganz klar der Superioritätsanspruch formuliert. Die Reihenfolge der Länder und Stadtstaaten wie auch die ikonographische Darstellung zu Beginn leiten die Leser*innenschaft bereits in eine hierarchische Ordnung Europas zu den genannten Kontinenten ein. Die Intermedialität, also das Zusammenspiel zwischen Bild, Text und Abfolge der Texte, spielt für die Wahrnehmung und Rezeption eine entscheidende Rolle. Nach der Einleitung und der Vorstellung der sogenannten deutschen Staaten wird als erstes Frankreich genannt, dem Spanien, Portugal, England, Dänemark, Schweden, Moskau, Polen, Ungarn, Siebenbürgen, die Walachei und Moldau, die Italienischen Staaten, freie Republiken und viele andere Staaten folgen. Von dieser neuen Systematisierung versprach man sich einen größeren Erkenntnisgewinn und eine effektivere Lerngrundlage für breitere Bevölkerungsschichten, die nicht geographiekundig waren. Wichtig für die hier besprochene Perspektive ist, dass die Einteilung der Welt in Kontinente, in Staaten, in West- und Osteuropa sowie in Mitteleuropa (die Gebiete zum Zentrum und zur Peripherie erklären) die Grundlage für spätere Hierarchisierungen und Politisierungen der Erdgeographien bildet.

Eigener Überlegenheitsanspruch

Im Vorwort des Bandes zu „Europa“ wird zudem auf die griechische Mythologie der Jungfrau Europa, Tochter des Königs Agenoris, verwiesen. Der über Jahrhunderte überlieferte Europamythos wurde auch in der Frühen Neuzeit vielfach rezipiert.  Der Entstehungsmythos entwickelte sich im Laufe des 17. Jahrhunderts zu einem Superioritätsanspruch gegenüber den anderen Kontinenten und findet sich sodann in vielen Selbstbildern – sei es in Form von Reisebeschreibungen, Länderbeschreibungen, Europakarten oder Atlanten – wieder.  Auf diesen Verweis folgt die politische Positionierung Europas als mächtigster und edelster Kontinent, der sowohl das Kamel (figuriert Asien) als auch die Herzen (figuriert Afrika) beherrscht – so der Bezug auf die antike Vorstellung. Europa selbst wird darüber erläutert, ohne dass es abgebildet wird. Die eigentliche Absichtserklärung folgt in der Einleitung. Die Beschreibung der Länder solle v.a. den Herrschern von Staaten und ihren Helfern (Beamten) eigene sowie benachbarte Territorien erklären.  Im Folgenden wird die erzieherische Funktion des Bandes erläutert, der die Bewohner*innen eines jeden Staates ansprechen soll. In einer „wohleingerichteten Republicque“ solle jedes Mitglied über seinen Staat wissen, wie er entstanden und beschaffen sei.

Die politische Abgrenzung beispielsweise gegenüber asiatischer Staaten wird über einen Vergleich der Regierungsformen hergestellt. Diese seien von jeher in despotischen Monarchien organisiert. Das liege an der unverhohlenen Wollust, die man gerne (aus-)lebe, weshalb eine despotische Monarchie nötig sei. Und das sei auch so geblieben, sodass die Bevölkerung europäische Statthalter wie Könige anerkennen würden. Der positivistische Bezug folgt sofort, denn, so wird weiter argumentiert, im alten Europa seien solche Monarchien eher selten.

Bis hierhin wird also vor allem das Eigene überhöht und als das einzig Richtige präsentiert. Hartmut Kaelble spricht in anderen Zusammenhängen von einer Überlegenheitsidentität: einem Selbstverständnis, verbunden mit einer Art Mission oder einer Pflicht, europäische Werte auch in anderen Kulturen zu vermitteln.  Andere Autor*innen sprechen im Zusammenhang mit der europäischen Kolonialgeschichte von imperialistischen Politiken, die durch aufklärerische Ideen und die sogenannte Zivilisierung anderer Kulturen gerechtfertigt werden.

Nun geht der Autor der Länderreihe über die vermeintlichen physischen Begebenheiten hinaus und behauptet, Europäer verfügten über die besten Wissenschaften und Künste. Obwohl die Sineser (Chinesen) auch klug seien, hätten sie doch in den Bereichen der Geometrie und Astronomie in der Vergangenheit viel von den Europäern gelernt. Auch hinsichtlich der Erfindung der Druckerei bzw. des Buchdrucks sei Europa China voraus. Die Chinesen hätten keine Buchstaben in Blei gegossen, um sie zu drucken. Auch die Waffenerfindung seitens des chinesischen Reiches wird in Frage gestellt, da ihre historischen Chronologien das Reich weit älter machen würden, als es tatsächlich sei. Und überhaupt sei ihre Zeitrechnung nicht mit der europäischen vergleichbar. Außerdem hätten die Europäer kluge Menschen wie Kolumbus hervorgebracht, der die neuen Länder entdeckt habe. Zudem werden die Kriegs- und Friedenkünste und der Kompass lobend erwähnt. Politisch seien die besten Regierungsarten in Europa zu finden und die Kolonien zu ihrem Zwecke botmäßig gemacht. Der Kolonisierung und Versklavung von Territorien und Menschen wird hier bereits argumentativ Vorschub geleistet und Europa wird thematisch immer weiter zentriert.

Die Abgrenzung erfolgte hier nicht gegenüber den Nachbarstaaten oder Kontinenten, sondern gegenüber einer Kultur, die als gebildet galt. Weitere Abgrenzungen werden gegenüber der Islamischen Religion formuliert. Dies leitet thematisch in den eigentlichen selbstherrlichen und auf Europa zentrierten Teil ein. Europa habe die beste Regierungsform. Dadurch würde sich eine Rechtfertigung der imperialen Begehrlichkeiten Europas ergeben. In dieser politischen Einleitung zum ersten Band wird bereits der Okzidentalisierungscharakter deutlich, der sowohl das Eigene gegen das Fremde klar abgrenzt und vereinheitlicht, als auch eine klare Hierarchisierung vornimmt.

Muriel González Athenas ist als Universitätsassistent*in an der Universität Innsbruck tätig und legt die Schwerpunkte auf Geschichte der Frühen Neuzeit, Geschlechtergeschichte, Postkoloniale Studien, Feminismus und Kultur-, Wirtschafts- und Wissenschaftsgeschichte. González Athenas ist Mitglied im Center Interdisziplinäre Geschlechterforschung Innsbruck.

Quellen:

1 Hier sind Ausschnitte aus der Veröffentlichung: González Athenas, Muriel. Zentralisierung Europas. Geschlecht und Grenzwahrnehmung, in: Gradinari, Irina / Li, Yumin / Naumann, Myriam (Hg.), Europas Außengrenzen. Interrelationen von Raum, Geschlecht und „Rasse“, Bielefeld 2021, S. 79-112. https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-4721-1/europas-aussengrenzen/

2 Vgl. Said, Edward, Orientalismus, Frankfurt a.M. 2009; Osterhammel, Jürgen, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 2010; Coronil, Fernando, Jenseits des Okzidentalismus: Unterwegs zu nichtimperialen geohistorischen Kategorien, in: Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini/Römschild, Regina (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002, S. 466-506.

3 Umfassende Diskussion in Asbach, Olaf (Hg.), Europa und die Moderne im langen 18. Jahrhundert (Europa und Moderne, Bd. 2), Hannover 2014.

4 Vgl. Schmale, Wolfgang, Das 18. Jahrhundert, Wien 2012, hier S. 241-353; Wintle, Michael, The Image of Europa, Cambridge 2009; Dünne, Jörg, Die Kartographische Imagination. Erinnern, Erzählen und Fingieren in der Frühen Neuzeit, München 2011; Lentz, Sebastian / Ormeling, Ferian (Hg.), Die Verräumlichung des Weltbildes. Petermanns Geographische Mitteilungen zwischen „explorativer Geographie“ und der „Vermessenheit“ europäischer Raumphantasien, Stuttgart 2008; Münkler, Herfried, „Europa als politische Idee. Ideengeschichtliche Facetten des Europabegriffs und deren aktuelle Bedeutung“, in: Leviathan 19 (1991), S. 521-541; Schenk, Frithjof Benjamin, „Mental Maps. Die Konstruktion von geographischen Räumen in Europa seit der Aufklärung“, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 493-514; Schultz, Hans-Dietrich, „Europa: (k)ein Kontinent? Das Europa deutscher Geographen“, in: Schröder, Iris / Höhler, Sabine (Hg.), Welt-Räume. Geschichte, Geografie und Globalisierung seit 1900, Frankfurt a.M./New York 2005, S. 204-235.

5 Gude, Heinrich Ludwig, Einleitung zu den Europäischen Staaten Und Derselben Beschluß, Verlag Renger Leipzig 1708

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