Tagungsbericht von Lou Plaisir und Katha Treubrodt

Bei der Tagung „Materialistisch-(queer)feministische Perspektiven auf Gewalt” wurde sich multiperspektivisch mit gesellschaftlichen wie auch individuelle Auswirkungen von Gewalt auseinandergesetzt. Wie Bio- und Nekropolitik zusammenwirken ist Schwerpunkt dieses zweiten Teil des Tagungsberichts von Katha Treubrodt und Lou Plaisir.
Der Frage, aus wessen Perspektive Gewalt (verstanden als Ausbeutung und Verhinderung von Lebenschancen) überhaupt gedacht wird und welche besondere Normierung damit einhergeht, lässt sie sich anhand bio- und nekropolitischer Konzepte noch weiter entschlüsseln.
Laut Rose Troll sowie Henrike Bloemen, Carla Ostermeyer und Constanze Stutz basiert Normierung (gewaltvolle Zurichtung ausbeutbarer Körper) auf der Erfindung eines autonomen Subjekts sowie kombinierter Techniken von Selbst- und Fremdbestimmung. Entlang von Geschlecht, Race und Klasse wird das Phantasma einer vermeintlich präpolitisch natürlichen Ordnung gesetzt, die es ermöglicht, dass das autonome Subjekt als einzig selbstbestimmte Subjektform staatlich (ink. Ehe und Familie) verankert ist.
Isabelle Jasmin Schmitt und Elin Marie Kurtz erklären, wie Naturalisierung als Strategie funktioniert. Machtverhältnisse werden als unveränderlich und vordiskursiv dargestellt. Das unterscheidet sie von anderen Prozessen der Normierung. Ein Beispiel ist der Verfassungsumbau in Ungarn. Dort wird die Idee der heterosexuellen Kleinfamilie genutzt, um den Staat von liberal zu autoritär zu verändern. Diese Strategie dient als ideologisches Werkzeug. Die Kleinfamilie wird als demografiepolitische Waffe eingesetzt, um soziale Konflikte in unterdrückende Lösungen zu lenken.
Zeynep Cemre Sandalli beleuchtet, wie sich wie sich biopolitische zu nekropolitischen Perspektiven verhalten. Sie zeigt auf, dass der Raum des Privaten zwar biopolitisch reguliert wird, dies für verworfene Individuen (entlang klassistischer, rassistischer, patriarchaler und ableistischer Linien) jedoch andere Konsequenzen als für Subjekte hat. Die Privatsphäre kann für Personen, denen systematisch das Recht auf Leben, Privatheit und Selbstbestimmung verwehrt wird, als schützende statt normierende Instanz fungieren.
Wie aber lässt sich das Verhältnis zwischen Nekro- und Biopolitik konzipieren?
Syntia Hasenöhrl liefert hierzu einen Ansatz, in dem sie im Kontext des Zusammenspiels von Staaten, Natur und Gewalt zentrale Begründungen für die Normalisierungen von Gewaltverhältnissen aufdeckt. Postkoloniale und dekoloniale Ansätze bieten die Möglichkeit, zu erkennen, dass diese in der kolonial-rassistischen und hetero-patriarchal Verfasstheit des Kapitalismus liegt. So kann bspw. die als „produktive Inwertsetzung“ legitimierte Inbesitznahme von Land bei gleichzeitiger extremer Vernachlässigung von Lebensraum, der rassifizierten Menschen zugewiesen wird, aus einer nekropolitischen Logik erklärt werden (postkoloniale Kontinuitäten siehe bspw. die aktuelle Auseinandersetzung um grünen Wasserstoff in Namibia). Dieses Überstülpen einer Verwertungslogik findet sich auch in Bevölkerungspolitiken und biopolitischen Nützlichkeitsdiskursen.
Marika Pierdicca nimmt einen nekropolitischen Blick auf den neomaterialistischen Begriff des „Embodiment” vor und übersetzt ihn in den Begriff des Embodidied-ment. Gewalt kann hier als Zurichtung von Körpern durch soziale und politische Gewalt und/oder medizinische Eingriffe verstanden werden, die eine geteilte queer*inter*feministische Erfahrung darstellt. In der Zurichtung werden Körper entzogen und langsam sterben gelassen. Dabei bedeutet dies nicht (ausschließlich) den faktischen Tod, sondern auch den sozialen Tod, in dem die eigene Existenz unsichtbar und höchstens über Pathologisierungen (Stigmatisierung als krankhaft) sichtbar gemacht wird. Auch das Überstülpen einer Verwertungslogik findet sich in diesem Gewaltverhältnis wieder, das nicht nur die Enteignung des Rechts auf eine körperlich unversehrte Verfassung und auf Consent negiert, sondern auch auf gerechte Arbeitsverhältnisse, gesundheitliche Versorgung und Schutz.
Tamás Jules Fütty knüpft an diese Analyse einer nekropolitische Gewaltstruktur in Bezug auf queere und trans* Körper an, wobei die Gewaltstruktur als institutionalisiert und intersektional verschränkt verstanden werden muss. Auch diese Form von Gewalt ist Konjunkturen unterworfen: Im Kontext des globalen Anstiegs von Rechtsextremismus hat sie eine neue Dimension erreicht, was vor allem durch (legislative) Diskurse zu Selbstbestimmung deutlich wird. Hier nimmt Gewalt zu, weil es nicht mehr „nur” um Teilhabe geht, sondern um die eigenständige Verfügung über den eigentlich verworfenen Körper.
Gewalt als konstituierendes Relationsverhältnis zwischen Körpern
Mascha Linke und Luana Pesarini plädieren für eine neue Denkweise von transmisogyner Gewalt und etablieren den Begriff der „Transfeminisierten Beziehungsweisen”. Sie verdeutlichen hierbei, dass die konstitutive Bedingung von Transmisogynie kolonial entstandene Zuschreibungen und nichtIdentifikationsprozesse sind: Auch wenn Personen keine trans* Frauen sind, können sie Trans*feindlichkeit erfahren (siehe bspw. Diskurs um Imane Khelif bei den Olympischen Spielen 2024). Aus dem Konzept der „Beziehungsweisen” leiten sie eine Alternative zum biopolitisch eingerichteten Geschlechtersystem ab: Geschlecht wird nicht als eine Kategorie des Subjekts gefasst, sondern als ein gesellschaftlich konstituierendes Relationsverhältnis. Verschiedene Körper werden mittels transmisogyne Gewalt, die nekropolitisch zwischen „lebenswert” und „nicht lebenswert” unterscheidet, in Verbindung gesetzt. Gleichzeitig werden dieselben Körper aber durch andere Kategorien wie Race und Klasse aktiv getrennt. Die Perspektive bietet die Möglichkeit, Bedingungen zu analysieren, die unterschiedliche transfeminiserte Subjekte über verschiedene geografische und geschichtliche Grenzen hinweg durch systematische Gewalt in ähnliche materielle Bedingungen bringen.
Nach diesen Ausführungen kann Biopolitik als ein Effekt von Nekropolitik konzipiert werden. Den biopolitischen Strategien geht eine nekropolitische Einteilung von bestimmten Körpern als intelligibel (lesbar) und lebbar sowie von anderen als abweichend und verworfen voraus. Aus dieser Analyse ergibt sich jedoch keine deterministische Beziehung zwischen (Nicht-)Subjekten und Verhältnissen, da gewaltvolle Zuschreibungen durch vielfältige Praxen, die während der Tagung vorgestellt wurden, auch zurückgewiesen werden können.
Herausforderungen juristischer Gewaltschutzmaßnahmen und Awareness-Strukturen
So untersucht Paula Edling, ob juristische Gewaltschutzmaßnahmen in ihrer Anwendung ihren Zielen gerecht werden. Es tauchen einige Schwierigkeiten auf: Durch den engen Gewaltbegriff, der im Recht eingeschrieben ist, werden die strukturellen Dimensionen von Gewalt ausgeklammert. Bei der Anwendung entscheidungsrelevanter Vorschriften ist neben den Kriterien der „Dringlichkeit“ und „Genauigkeit“ in der Darstellung des Gewalterlebens auch die „Objektivität“ ausschlaggebend, wobei hier das Konzept des “objektiven Durschnittsmenschen” als anzulegender Maßstab verwendet wird. Demgegenüber steht die Bearbeitung von sexistischer Gewalt durch Awareness-Strukturen. Ausgehend von deutschlandweiten Akteur*innen konstatiert Philipp Wissing, dass diese oft widersprüchliche Konzepte von Männlichkeit, gerade hinsichtlich der Aktivität oder Passivität im Kontext von sexistischer Gewalt, nutzen. Dies führt oft dazu, dass die Durchsetzung der Parteinahme für Betroffene nach entsprechenden Gewaltvorfällen scheitert. Es braucht ein geteiltes Konzept von als männlich konzipierter Gewalt, um Handlungsempfehlungen der Awareness-Gruppen und die Solidarisierung mit Betroffenen erfolgreich umsetzen zu können.
Feministische Kollektive und Gegenstrategien
Eine transnationale Perspektive auf feministische Gegenstrategien im Kontext von Gewalt liefert Laura Meier mit ihrem Vortrag zu feministischen Kollektiven im post-jugoslawischen Raum. Auf Grundlage einer geteilten Vulnerabilität und einer gemeinsam empfundenen Angst vor als männlich konzipierter Gewalt mobilisieren die Kollektive gegen sexualisierte Gewalt, Feminizide und schaffen (binär weiblich gedachte) Räume der Verbundenheit. Materielle Realitäten limitieren die Arbeit der Kollektive in diesem Kontext, so stehen für gemeinsame Projekte und Aktionen nur wenige finanzielle Ressourcen zur Verfügung.
Dem Trend der Instrumentalisierung feministischer Debatten, wie durch Konzepte der „Feministischen Außenpolitik“, stellt Claudia Brunner einen materialistisch-feministischen Antimilitarismus gegenüber. Aus der Analyse systematischer Zusammenhänge zwischen Militarismus, Nationalismus, Kapitalismus, Kolonialismus und Patriarchat leitet sie ab, dass Krieg keine Ausnahme, sondern konstitutiv für Machtverhältnisse ist. Geschlecht stellt hierbei eine Ressource dar, die sich auf verschiedenste Arten mobilisieren lässt. So kommt es bspw. zu einer heteronormativen Aufspaltung in friedfertige Weiblichkeit und männliche Kriegsfähigkeit mit einhergehenden Rollenzuschreibungen. Eine spezifisch hegemoniale Männlichkeit wird dabei als Idealbild angerufen und wirkt auf die Gesellschaft. Diese militarisierte Logik schreibt sich auch im Alltag ein, was sich u.a. in der Sprache durch sexualisierten Metaphern äußert.
Cordula Trunk präsentiert Aktionen und Konzeptionen von Gegengewalt und feministischer Militanz als Strategie queerfeministischer Bewegungen gegen globale Gewaltverhältnisse und setzte aktuelle Umsetzungen, wie die Take Back The Night-Demonstrationen, in Zusammenhang mit vergangenen militanten feministischen Protesten. Abseits vom feministischen Mainstream wird Gewalt hier als gesellschaftstheoretisch kritisiert, zugleich wird sie aber in einer spezifischen Form auch als Mittel der Befreiung gesehen und in dieser Widersprüchlichkeit reflektiert.
Abschließend ist es wichtig zu erkennen, dass es trotz der schwierigen Erkenntnisse immer noch Spielräume gibt. Diese eröffnen neue Handlungsmöglichkeiten, die über bloßes Reagieren auf Repression und Gewalt hinausgehen und versuchen, kreativ transformativ zu wirken. Das zeigen nicht nur die Vorträge, die emanzipatorische Praxen behandelt haben, sondern auch die Tagung selbst. Dem Aufruf zu einer queerfeministischen und materialistischen Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt sind viele Forscher*innen aus unterschiedlichsten Disziplinen und Kontexten gefolgt. Das gemeinsame dreitägige Nachdenken über diese Themenkomplexe macht deutlich, dass Spielräume vorhanden sind, die es zu erschließen gilt.
