Kategorien
Aktivismus Alltag Tirol Wissenschaft

INNklusion – für einen langfristigen Wandel

Beitrag von Helen Schindler

Foto: Anna Zweimüller

Das Projekt INNklusion der Universität Innsbruck etabliert eine interdisziplinäre Lehr- und Forschungsplattform, in der Studierende gemeinsam mit Menschen mit Behinderungen und Expert*innen innovative Assistenzlösungen entwickeln. Ziel ist die nachhaltige Förderung von gesellschaftlicher Teilhabe durch praxisnahe Co-Creation, bei der die jeweiligen Lebensrealitäten aktiv eingebunden werden.

„Keine Konzepte für die Schublade“

In einer Gesellschaft, die Menschen mit Behinderungen ausgrenzt und an ihrer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben behindert, gestaltet das Projekt INNklusion transformative Lehre und zeigt, wie gelebte Inklusion an der Uni aussehen kann, die für Menschen mit Behinderungen weiterhin mit vielfältigen Barrieren verknüpft ist.

In vielen Studiengängen ist das Thema Inklusion nicht wirklich präsent. Zukünftige Architekt*innen kommen beispielsweise oft erst in der Arbeitswelt mit dem Thema in Berührung, wenn sie barrierefrei bauen sollen. Das wollten Oliver Ott, Lennart Ralfs, Katharina Schmermbeck und ihre Teamkolleg*innen aus der Fertigungstechnik ändern. Seit der Gründung des Projekts 2023 sind sie dabei und haben in einem Interview erzählt, wie sie versuchen, Barrieren abzubauen, und was sie antreibt.

Ein Fingersensor für mehr Selbstbestimmung

Nach dem Motto „Keine Konzepte für die Schublade“ versuchte das Team zunächst mit viel Engagement, das Vertrauen lokaler Vereine und Institutionen zu gewinnen. Sie sammelten Anliegen und Bedürfnisse, die mit und durch Bachelorstudierende der Mechatronik bearbeitet werden können. Auf einen Aufruf hin meldete sich unter anderem die persönliche Assistenz einer Person mit Locked-in-Syndrom, die nach einem schweren Unfall nur den kleinen Finger ein paar Zentimeter und die Augen bewegen konnte. Zwei Wochen später kamen die Studierenden in die Vorlesung INNklusion mit einem entwickelten Fingersensor zurück, der kleinste Bewegungen aufzeichnet und dann einen Ton abspielt. Damit konnte die Klientin selbstbestimmt ihre persönliche Assistenz zu sich rufen.

In einem anderen Fall verhalf die Erfindung eines speziellen Haargummis, dessen Mechanismus einer einarmigen Studentin das Binden der Haare erleichtert, zu mehr Unabhängigkeit im Alltag. INNklusion möchte zudem die „Stille Stunde“ nach Tirol holen: eine Möglichkeit für reizreduziertes Einkaufen – das Projektteam ist im Kontakt mit der Tiroler Handelskammer und strebt eine Testphase an. Dies sind nur drei Beispiele für die Prototypen und Konzepte, die im Rahmen von INNklusion entstanden sind. Bereits im ersten Jahr ist zur Bachelorvorlesung auch eine interdisziplinäre Lehrveranstaltung für Masterstudierende hinzugekommen.

Expert*innen ihrer Lebensrealität

INNklusion positioniert sich klar: Menschen mit Behinderungen sind keine Objekte von Hilfsmaßnahmen, sondern selbstbestimmte und handlungsfähige Subjekte ihrer eigenen Lebensrealität. Ihre Perspektiven sind unverzichtbar, wenn es darum geht, Barrieren zu erkennen und abzubauen. „Wir können keine Assistenzlösungen entwickeln, ohne die Menschen einzubeziehen, die diese Lösungen tagtäglich brauchen“, betont Katharina. Mit einem klaren Fokus auf Co-Design – einem Ansatz, bei dem alle Beteiligten aktiv in die Entwicklung von Konzepten eingebunden werden – wird deutlich, dass Inklusion nur im Dialog funktionieren kann. „Das Projekt ist für uns nur ein Erfolg, wenn die betroffenen Personen der entwickelten Lösung überzeugt sind und einen persönlichen Nutzen daraus ziehen. Im Idealfall erreicht es eine breitere Öffentlichkeit“, ergänzt Lennart.

Das Vertrauen, das Menschen mit Behinderungen vorschießen, nimmt das Team sehr ernst. Deshalb achtet es darauf, dass kein Projekt auf der Strecke bleibt, auch wenn es von den Studierenden in einem Semester nicht zu Ende gebracht werden kann. Dann wird im Team geprüft, wer weiter daran arbeiten kann. Denn Einrichtungsleitungen berichteten, dass sie bereits Erfahrungen mit anderen Projekten machen mussten, die nicht immer positiv waren. Frust entsteht, wenn es zu einem vorzeitigen Ende, auch aus finanziellen Gründen, kommt. Das hat sich das Team zu Herzen genommen, was die Bereitschaft, eigene Denkmuster zu hinterfragen und Kritik anzunehmen, erfordert.

Visionen und Ziele

INNklusion geht es nicht nur um die Entwicklung kurzfristiger Lösungen, sondern um einen langfristigen Wandel. Eine der zentralen Herausforderungen dabei ist, nachhaltige Strukturen zu schaffen, die auch unabhängig vom Kernteam weiter bestehen können. Ein nächster Schritt wäre die Ausweitung des Projekts: „Wir möchten, dass andere Hochschulen und Institutionen von unseren Erfahrungen profitieren können.“ Dafür macht das Team seine zentralen Ergebnisse, Vorgehen und konzeptuelle Arbeit öffentlich zugänglich und stellt zum Beispiel einfache 3D-Druckvorlagen für seine Assistenzlösungen open source zur Verfügung. Außerdem ist das Team bestrebt, das Thema an der Universität Innsbruck auf vielen Ebenen präsent zu machen und Studierende mit Expert*innen zu vernetzen.

So kommen im vierteljährlichen Ideen-Café, einem zentralen Angebot von INNklusion, Menschen mit Behinderungen, Studierende, Forschende und Interessierte zusammen, um gemeinsam Ideen zu schmieden und Barrieren zu hinterfragen. Der Raum lebt von gegenseitigem Respekt und Offenheit und hat sich als Vernetzungsort für Engagierte in Innsbruck etabliert. Neben der Verstetigung der neu entstandenen Formate und Lehrveranstaltungen gibt es viele weitere Ideen: So kam etwa eine Besucherin des Ideen-Cafés auf den Gedanken einer „assistive technology plattform“, die Menschen mit Behinderungen vernetzt und den Austausch von Ideen und Ressourcen erleichtert. „Es gibt so viele Lösungen da draußen, aber oft weiß man gar nicht, dass sie existieren“, erklärt Katharina.

Gemeinsam mehr erreichen

Alle sind willkommen: Mach mit bei INNklusion!

Das Projekt INNklusion lebt von der Beteiligung und den Ideen vieler. Interessierte Menschen – ob mit oder ohne Behinderungen – sind herzlich eingeladen, am Ideen-Café teilzunehmen und ihre Perspektiven einzubringen. Auch das Team von INNklusion steht jederzeit bereit, Fragen zu beantworten, Wissen zu teilen und beratend weiterzuhelfen. INNklusion dankt allen Mitwirkenden und Unterstützer*innen. Nur durch ihr Vertrauen, ihre Mitarbeit und ihre kritischen Anregungen ist all dies möglich geworden.


Zur Autor*in

Ich bin Helen und studiere im Master Gender, Kultur und sozialer Wandel. Als Sozialarbeiterin liegt mein Fokus auf individueller und kollektiver Agency und im Rahmen meines Studiums setze ich mich viel mit neuen sozialen Bewegungen auseinander. Durch meine langjährige Arbeitspraxis als Bildungsreferentin in der Jugend- und Erwachsenenbildung beschäftigen mich vielfältige Fragen zum Thema Lernen und Wissensvermittlung. Der FUQS-Blog versucht eine Antwort auf diese Fragen zu geben, indem in einfacher Sprache Themen aus (queer-)feministischer Theorie und Praxis diskutiert werden und eine Einladung zum Dialog ausgesprochen wird.

Hinterlasse einen Kommentar