Ein Beitrag von Valerie.

Wenn Betroffene sexualisierter Gewalt sich dazu entschließen, den Weg über ein Strafverfahren zu gehen, stehen sie häufig vor einem System, das mehr Hürden als Hilfe bietet. Aus feministischer Perspektive stellt sich die Frage, ob das Strafrecht in seiner derzeitigen Ausgestaltung überhaupt ein geeigneter Ort ist, um mit der Realität sexualisierter Gewalt umzugehen – oder ob es nicht vielmehr Strukturen aufrechterhält, die Betroffene erneut marginalisieren.
Retraumatisierung statt Aufarbeitung
Ein zentrales Problem ist die Retraumatisierung im Strafverfahren. Betroffene müssen ihre Erlebnisse oft mehrfach schildern; so bei der Polizei, vor Gericht und allenfalls zur Erstellung von Gutachten. Zwar ist es mittlerweile möglich, Aussagen getrennt vom Täter zu machen, doch das schützt nicht unbedingt vor der psychischen Belastung (Mitas). Jedes Wiedererzählen der Tat bedeutet für viele ein Wiedererleben (Mitas). Und das geschieht in einem Raum, in dem sie nicht selten auf mangelnde Sensibilität stoßen.
Opferrechte? Ja – aber nur auf dem Papier
Zwar gibt es in Österreich die Möglichkeit einer psychosozialen und juristischen Prozessbegleitung, doch die Qualität und Zugänglichkeit dieser Unterstützung variiert stark. Gerade in ländlichen Regionen fehlt es an ausreichenden Ressourcen, wodurch viele Betroffene allein bleiben (Bundesministerium für Justiz). Und selbst wenn Begleitung vorhanden ist: Das Verfahren selbst ist in erster Linie darauf ausgerichtet, eine gesellschaftliche Gerechtigkeit wiederherzustellen und nicht unbedingt um die Bedürfnisse des Opfers zu befriedigen.
Am Ende des Verfahrens steht oft ein Freispruch oder eine milde Strafe. Schmerzensgeld oder andere zivilrechtliche Ansprüche sind auch möglich, wenn das Opfer sich dem Verfahren als Privatbeteiligte anschließt (oesterreich.gv.at). Und selbst wenn es zu einer Verurteilung kommt, ist das für das Opfer nicht gleichbedeutend mit Wiedergutmachung. Der Täter wird vielleicht weggesperrt – aber das bedeutet nicht, dass er die Tat nicht erneut begehen wird.
Sexismus vor Gericht: Ein strukturelles Problem
Immer wieder wird Betroffenen – vor allem FLINTA*-Personen – weniger geglaubt (Wendsche). Die gesellschaftliche Erwartungshaltung, dass Frauen sich „deutlich“ wehren müssen, ist tief verankert. Anstatt die Verantwortung beim Täter zu verorten, wird das Verhalten des Opfers seziert: Was hatte sie an? Wie sehr hat sie sich gewehrt? Hat sie sich widersetzt? Dieses Denken ist Ausdruck patriarchaler Strukturen, die selbst im Gerichtssaal nicht haltmachen.
Hohe Beweislast – aber geringe Aussicht auf Erfolg
Das Prinzip „in dubio pro reo“ – im Zweifel für den Angeklagten – bedeutet in Sexualstrafverfahren oft Aussage gegen Aussage (RechtEasy KG). Und weil Richter:innen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von der Tat überzeugt sein müssen, kommt es selten zu Verurteilungen (RechtEasy KG). Das liegt nicht nur an juristischen Standards, sondern auch daran, dass Aussagen von FLINTA* aufgrund strukturellen Sexismus’ per se als weniger glaubwürdig gelten. Ein Freispruch bedeutet jedoch nicht, dass keine Tat stattgefunden hat (RechtEasy KG). Er bedeutet nur, dass der rechtliche Beweis nicht ausreichend war, was für viele Betroffene ein schwer zu begreifender Unterschied ist. Gerade bei Straftaten, wo die Polizei ohne vorherige Anzeige ermittelt, kann der Freispruch aber auch das ganze Strafverfahren selbst besonders frustrierend sein: Denn selbst wenn Betroffene keine Anzeige erstatten wollen, kann ein Verfahren in Gang gesetzt werden, wenn es sich um eine Straftat handelt und die Polizei davon Kenntnis nimmt (oesterreich.gv.at), dass Vefahren wird dann, eventuell von den Betroffenen ungewollt, mit all den damit verbundenen Belastungen in Gang gesetzt.
Ist das Strafverfahren der richtige Ort für die Aufarbeitung?
Immer öfter wird daher die Frage gestellt, ob das Strafverfahren überhaupt der geeignete Raum ist, um sexualisierte Gewalt aufzuarbeiten. Oder ob es andere Mechanismen braucht, wie etwa eine Aufweichung der Beweismaßstäbe im Strafverfahren selbst aber auch außerhalb in analoger Weise zum Gleichbehandlungsgesetz, wo strukturelle Benachteiligung sowie Beweisschwierigkeiten stärker berücksichtigt werden, welches aber auch einen sehr eingeschränkten Anwendungsbereich hat. Dieses gilt für Gleichbehandlung in der Arbeitswelt und in geringerem Umfang die Gleichbehandlung beim Zugang von Dienstleistungen und Gütern (oesterreich.gv.at).
Alternative Anlaufstelle: Die Gleichbehandlungsanwaltschaft
Ein solcher alternativer Ort ist die Gleichbehandlungsanwaltschaft (Gleichbehandlungsanwaltschaft). Hier können Betroffene von sexualisierter Gewalt oder Diskriminierung außerhalb eines Gerichtssaals ihren Fall schildern. Die Gleichbehandlungsanwaltschaft sucht nach Lösungen für Betroffene, die nicht unbedingt in einem Straf- oder Zivilverfahren liegen müssen. Im Gleichbehandlungsrecht gibt es außerdem noch die Möglichkeit, außerhalb eines Gerichtsverfahrens prüfen zu lassen, ob eine Diskriminierung vorliegt. Diese Beurteilung ist zwar nicht rechtlich bindend, kann aber eine wertvolle Orientierung bieten – etwa, wie ein Gericht den Fall vermutlich einschätzen würde (GAW). Außerdem kann sie Betroffenen als strategisches Druckmittel dienen, etwa um auf einen Vergleich hinzuwirken.
Fazit: Feministisch gedacht, strukturell neu gedacht
Ein feministischer Blick auf das Sexualstrafverfahren zeigt deutlich: Das derzeitige System ist nicht primär auf die Bedürfnisse der Betroffenen ausgerichtet. Es geht um die Verfolgung öffentlicher Interessen und nicht unbedingt um Gerechtigkeit für Opfer. Deshalb braucht es dringend strukturelle Reformen – sei es im Strafrecht, sei es durch den Ausbau der Rechte alternativer Anlaufstellen wie der Gleichbehandlungsanwaltschaft und die Erweiterung des Anwendungsbereiches des Gleichbehandlungsgesetzes (Gleichbehandlungsanwaltschaft). Damit Betroffene nicht länger zwischen Retraumatisierung (vor Gericht) oder der Entscheidung, die Gewalttat an ihnen nicht durch Rechtsstaat verfolgen zu lassen, wählen müssen.
Quellen:
Bundesministerium für Justiz. Tätigkeitsbericht Prozessbegleitung 2013-2023. 2024. Bundesministerium für Justiz, https://www.justiz.gv.at/file/2c94848535a081cf0135a49ef4880021.de.0/pb_t%C3%A4tigkeitsbericht_2014-2023.pdf.
GAW. Gleichbehandlungsanwaltschaft – Gleichbehandlungsanwaltschaft, https://www.gleichbehandlungsanwaltschaft.gv.at/. Accessed 30 May 2025.
GAW. “Forderungen.” Gleichbehandlungsanwaltschaft, https://www.gleichbehandlungsanwaltschaft.gv.at/Gleichstellungspolitik/Forderungen.html.
Mitas, Laura. Wie sind Fortschritte in der Etablierung der Prozessbegleitung in Österreich aus der Sicht beteiligter Expertinnen und Experten zustande gekommen? 2016. pb-fachstelle, https://www.pb-fachstelle.at/wp-content/uploads/2016/08/Fortschritte-in-der-Etablierung-von-Prozessbegleitung-aus-ExpertInnensicht-Laura-Mitas.pdf?
oesterreich.gv.at. “Gleichbehandlung ohne Unterschied des Geschlechts in sonstigen Bereichen.” oesterreich.gv.at, 2024, https://www.oesterreich.gv.at/themen/gesetze_und_recht/frauenfoerderung-und-gleichbehandlung/gleichbehandlung/3/Seite.1860400.html.
oesterreich.gv.at. “Privatbeteiligte – Strafrecht.” oesterreich.gv.at, 20 June 2024, https://www.oesterreich.gv.at/themen/gesetze_und_recht/strafrecht/3/Seite.2460208.html. Accessed 30 May 2025.
RechtEasy KG. “Aussage gegen Aussage.” RechtEasy, https://www.rechteasy.at/wiki/aussage-gegen-aussage/.
Wendsche, Zoe Fee-Noa. Interventionen bei sexualisierter Gewalt gegen FLINTA* in der elektronischen Partyszene durch Awareness. 2023, https://opus4.kobv.de/opus4-hs-duesseldorf/frontdoor/deliver/index/docId/4373/file/FBSK_Bachelorthesis_WiSe23_Wendsche.pdf?
