Wissenschaftlicher Gastbeitrag von Laura Volgger

Unter der Leitung des Centers Interdisziplinäre Geschlechterforschung an der Universität Innsbruck wird aktuell eine qualitative Studie zu sexualisierter Gewalt im Raum Südtirol durchgeführt. Dabei werden neben den Entstehungsbedingungen auch die Praktiken des Verschweigens von sexualisierter Gewalt wissenschaftlich aufgearbeitet.
Diesen Monat geht Projektmitarbeiterin Laura Volgger in ihrem Beitrag auf den theoretischen Hintergrund bzw. die Definition des Begriffs Arbeit in Zusammenhang mit Gewalterfahrungen ein und erweitert damit seine oft kapitalistisch konnnotierte Auslegung.
Viel Spaß beim Lesen!
Marxistisch-feministische1 queere und trans* marxistische Theoretiker*innen2 3 betonen zunehmend die Notwendigkeit, den Begriff der ‚Arbeit‘ zu erweitern. Sie unterstreichen die vielfältigen und oft übersehenen Formen von Arbeit, die in unserer Gesellschaft geleistet werden. Der vorliegende Text schreibt sich als Beitrag in diese notwendigen Diskussionen ein, indem er auf eine Form der Arbeit eingeht, die selbst in feministischen, queeren oder trans* Kämpfen und Theorien bisher weitgehend unbeachtet bleibt: nämlich Arbeit, die im Kontext von sexualisiertem Gewalterleben geleistet wird. Diese umfasst nicht nur die Erinnerungsarbeit, sondern auch die therapeutische Auseinandersetzung, Arbeit im sozialen Umfeld und in eventuellen juristischen Kontexten sowie die stetige Arbeit an sich selbst, die Überlebende leisten, um mit den Folgen der Gewalt umzugehen. Obwohl Überlebende diese Arbeit verrichten müssen, schließengesellschaftliche und ökonomische Strukturen diese Arbeiten aus ihrem Verständnis von ‚wertvoller‘ Arbeit aus. Dieser Ausschluss befördert die Fortschreibung einer Gewaltkultur, in der Täter*innen weitgehend unbeschwert weiterleben können, während Überlebende weiter durch gesellschaftliche Strukturen verletzbar gemacht werden und sich mit den weitreichenden Konsequenzen der Gewalt auseinandersetzen müssen.
Analog zu der Forderung der Bezahlung von Reproduktionsarbeit in der internationalen feministischen Bewegung „Wages for Housework“1, der queeren Bewegung „Wages Due Lesbians“3 oder den Forderungen nach „Wages for Transition“2 müssen wir[1] auch Wages for Remembrance fordern, denn:
Es bedeutet ARBEIT, sich gegen die gesellschaftlichen Zweifel zu wehren und dafür zu sorgen, dass einem im eigenen Umfeld geglaubt wird.
Es bedeutet ARBEIT, die Taten zur Anzeige zu bringen und die enormen Belastungen eines Gerichtsprozesses auf sich zu nehmen.
Es bedeutet ARBEIT, durch ein Netz aus sozialen und institutionellen Barrieren zu navigieren, die es erschweren, das Gewalterleben zu verarbeiten und Gerechtigkeit zu erfahren.
Es bedeutet ARBEIT, die durch gesellschaftliche Stigmatisierung verursachte Scham zu überwinden und so tun zu müssen, als sei man nicht verletzt, vergewaltigt oder missbraucht worden.
Es bedeutet ARBEIT, das Bild einer intakten Familie aufrechtzuerhalten und das Gewalterleben zu verschweigen, um die Familie oder Freund*innenschaft nicht zu zerstören.
Es bedeutet ARBEIT, das eigene Gewalterleben zu erkennen, zu kontextualisieren und zu verstehen.
Es bedeutet ARBEIT, sich eine „Grammatik der Gewalt“[2] sowie Wissen anzueignen, welches für einen Großteil der Gesellschaft irrelevant ist und von herrschenden Strukturen meist ignoriert wird. Es ist ein Privileg, sich dieses Wissen nicht aneignen und sich nicht mit Gewalt beschäftigen zu müssen.
Es bedeutet ARBEIT, sich in jahrelanger oder jahrzehntelanger Therapie den eigenen Körper wieder anzueignen.
Es bedeutet ARBEIT, verfrüht Abschied von Eltern, Familienmitgliedern oder Vertrauenspersonen zu nehmen, da diese durch ihr Gewalthandeln als Bezugspersonen nicht mehr zur Verfügung stehen.
Es bedeutet ARBEIT, gegen das kollektive Vergessen, gegen das große Schweigen anzukämpfen, das Gewalterfahrungen marginalisiert und verdrängt.
Es bedeutet ARBEIT, Solidaritätsnetzwerke mit anderen Überlebenden aufzubauen und sich gegenseitig zu unterstützen.
Es bedeutet letztendlich Arbeit, den Übergang von der Privatisierung von Gewalterleben zur Vergemeinschaftung von Gewalt als Erinnerungsmaterial zu schaffen. Dieser Übergang geschieht schrittweise durch den Aufbau und Ausbau neuer Sorgepraktiken und Sorgenetzwerke, die quer zu privaten Familienhaushalten oder herrschenden öffentlichen Institutionen liegen, wie sie auch bei migrantischen Communities4, queeren Wahlverwandtschaften5 oder trans* Sorgenetzwerken6existieren.
Wenn wir im Folgenden von ‚Arbeit im Umgang mit sexualisierter Gewalt‘ sprechen, werden darunter all diese Formen der Arbeit subsummiert, die Überlebende aufgrund der Gewalterfahrungen leisten müssen – der Gewalterfahrungen, die durch gesellschaftliche Strukturen ermöglicht und legitimiert werden. Indem wir unser Verständnis von ‚Arbeit‘ auf diese Art erweitern, können wir beginnen, die unsichtbare Last sichtbar zu machen, die Überlebende tragen und Wege erkunden, wie unsere Gesellschaft diese Formen der Arbeit anerkennen und angemessen entschädigen kann. Dazu werde ich die historischen und theoretischen Hintergründe umreißen, die unser hegemoniales Arbeitsverständnis geformt haben. Weiters werde ich die Bedeutung dieser Arbeit im Kampf gegen eine Kultur der Gewalt beleuchten und die Forderung nach Wages for Remembrance als symbolische und praktische Anerkennung und gesellschaftliche Verantwortungsübernahme herausarbeiten.
(Queer-)Feministische Perspektiven auf Arbeit und Anerkennung
Unser Verständnis von ‚Arbeit‘ und die damit zusammenhängende Anerkennung sind stark von gesellschaftlichen Machtverhältnissen geprägt. Im Kapitalismus genießen vornehmlich monetär entlohnte Tätigkeiten Anerkennung, während andere Arbeiten, die vermeintlich keinen Mehrwert generieren[6] – wie etwa Hausarbeit1 , die Reproduktion von Arbeitskräften7 oder emotionale Arbeit3 – weitgehend ignoriert werden. Feministische Bewegungen wie die von Frauen of Color initiierte „Aid for Dependent Children“ in den 1960er Jahren in den USA11:43 oder die internationale „Wages for Housework“-Bewegung der 1970er Jahre betonten den ökonomischen Wert dieser unsichtbaren Arbeiten und forderten deren Anerkennung. Marxistische Feministinnen wie Silvia Federici, Mariarosa Dalla Costa oder Selma James waren führende Stimmen in den Lohn-für-Hausarbeit-Debatten, die darauf abzielten, die durch die Nichtanerkennung dieser Arbeit entstehenden sozialen Ungerechtigkeiten sichtbar zu machen.
Kritik fanden diese frühen marxistisch-feministischen Bewegungen durch queer-feministische Aktivist*innen und Theoretiker*innen der 1980er Jahre. Die queere und trans*Aktivist*in, Wissenschaftler*in und Dichter*in Nat Raha unterstreicht hier die Bedeutung der „Wages Due Lesbians“-Kampagne, welche die Inklusion von queeren und trans* Lebensweisen in die Diskussion um Arbeit und deren (Nicht-)Entlohnung forderte. Raha argumentiert für ein erweitertes Verständnis von Arbeit, das emotionale Fürsorge und die Pflege solidarischer „Formen von Gemeinschaft, Miteinander und Welten“3:134 einschließt – Aspekte, die im bestehenden Kapitalismus materiell und sozial abgewertet werden. Dabei sind emotionale Arbeit und der Ausbau solidarischer Gemeinschaften nach Raha essentiell für das Leben und Überleben marginalisierter Gruppen.
Ausgehend von diesen Überlegungen müssen wir Wages for Remembrance aus zumindest zwei Gründen fordern: Erstens bedeutet Arbeit im Umgang mit sexualisierter Gewalt einen gesellschaftlichen Mehrwert – nicht zu verwechseln mit dem marktrelevanten Mehrwert – und zweitens kann diese Arbeit von Überlebenden nicht einfach abgelehnt, bestreikt oder verweigert werden. Beide Gründe werden in den folgenden zwei Kapiteln aufgeschlüsselt.
Erinnerungsarbeit und gesellschaftlicher Mehrwert
Um die Diskussion um ‚Arbeit‘ neu zu rahmen, möchte ich mich im Folgenden in Anlehnung an (queer-)feministische Theorien von ihrer marktbezogenen Bewertung abwenden und stattdessen den gesellschaftlichen Mehrwert fokussieren, den bestimmte Tätigkeiten für die Umgestaltung androzentrischer, heteronormativer, rassistischer und postkolonialer kapitalistischer Strukturen haben. Dabei steht das Argument im Vordergrund, dass die Arbeit im Umgang mit sexualisierter Gewalt nicht nur notwendig ist, um Individuen Gerechtigkeit und Heilung zu ermöglichen, sondern auch, um gesellschaftliche Strukturen, die solche Gewalt ermöglichen und perpetuieren, zu hinterfragen, zu dekonstruieren und neu zu gestalten. Ich werde argumentieren, dass die Ausführung dieser Arbeiten die Gesellschaft zu einer besseren macht als ihre Nicht-Ausführung.
In vielen Teilen der Welt werden die Lasten der sozialen Reproduktion – die notwendige Arbeit, um Arbeitskräfte zu ‚produzieren‘, zu erhalten und tagtäglich wieder arbeitstauglich zu machen – nicht von staatlichen Strukturen getragen, sondern fallen auf individuelle Haushalte, Gemeinschaften oder ganze Dörfer zurück8. Feministische Theoretiker*innen betonten dabei, wie diese unbezahlte Arbeit eine kritische, jedoch oft übersehene Stütze des kapitalistischen Systems darstellt9. In Ländern mit etablierten Sozialsystemen wird dieses Ungleichgewicht oft als Pflege- oder breitere soziale Reproduktionskrise wahrgenommen. In Regionen ohne wohlfahrtstaatliche Sicherheitsnetze entpuppt sich die Externalisierung dieser Kosten als direkte Verstärkung der kapitalistischen Strukturen: Unbezahlte Arbeit wird zur unausgesprochenen Subvention der Produktion. Die Ausbeutung von Arbeitskräften weltweit wird verstärkt, besonders jedoch in Regionen ohne wohlfahrtsstaatliche Sicherheitsnetze, indem ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen erschwert und menschliche Entbehrungen als gegeben hingenommen werden8. Das Handeln transnationaler Konzerne spielt dabei eine wesentliche Rolle, da diese oft bestehende Ungleichheiten ausnutzen und verstärken, um Kosten zu minimieren und Profit zu maximieren. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, unsere Ansichten über ‚Arbeit‘ zu überdenken und eine transnationale Verantwortung für soziale Reproduktionsaufgaben anzuerkennen.
Die Neudefinition von ‚Arbeit‘ ist entscheidend, um Mechanismen der kapitalistischen Ausbeutung sichtbar und angreifbar zu machen. Indem wir Arbeit im Kontext von sexualisierter Gewalt anerkennen – eine Arbeit, die sich der Heilung von Schäden, der Prävention weiterer Gewalt und dem Aufbau widerstandsfähiger Gemeinschaften widmet –, fordern wir kapitalistische Vorstellungen von Wert und Produktivität heraus. Wir unterstreichen den gesellschaftlichen Mehrwert von Arbeiten im Umgang mit sexualisierter Gewalt, der darin liegt, dass sie widerstandsfähige und unterstützende Gemeinschaften und Solidaritätsnetzwerke schaffen, Prävention leisten und damit zugleich die Gewaltförmigkeit kapitalistischer Strukturen aufdecken. Indem Arbeiten im Umgang mit sexualisierter Gewalt zentrale Normierungen und Institutionen des Kapitalismus, wie die heterosexuelle Kleinfamilie, die traditionell als primäre Quelle für Liebe, Intimität und Zuneigung gilt, als Bedingungsgefüge für sexualisierte Gewalt sichtbar machen, stellen sie diese auch als Ort des Schutzes infrage und destabilisieren sie. Dadurch öffnen sie einerseits den Raum für alternative Vorstellungen und Praktiken von Gemeinschaft und Fürsorge, wodurch neue Wege der solidarischen Beziehungen gedacht und beschritten werden können10. Andererseits kann die Destabilisierung von Normierungen und Institutionen des Kapitalismus zu einer Verringerung von struktureller Ausbeutung beitragen. Indem traditionelle Machtstrukturen und Ausbeutungsmechanismen sichtbar und durch die Anerkennung von Arbeit im Umgang mit sexualisierter Gewalt herausforderbar werden, eröffnet diese Arbeit nicht nur Möglichkeiten für eine gerechtere Verteilung von Ressourcen und Chancen, sondern auch für die Entwicklung von Lebensformen, die nicht auf Ausbeutung basieren. Aus diesen Diskussionen können wir die Erkenntnis ableiten, dass sich Arbeit, die im Kontext von sexualisiertem Gewalterleben geleistet wird, dem Rahmen neoliberaler Wertvorstellungen entzieht. Diese Arbeit zielt nicht auf die Erzeugung eines materiellen Mehrwerts, sondern vielmehr auf die Aufarbeitung, Prävention und Heilung der Schäden ab, die durch Gewalt entstanden sind. Ihr gesellschaftlicher Mehrwert zeigt sich darin, dass die Lebensqualität in der Gesellschaft verbessert wird, wenn diese Arbeit verrichtet wird, im Gegensatz zu den negativen Konsequenzen, die entstehen, wenn sie unterlassen wird.
Indem wir Wages for Remembrance fordern, können wir also einerseits die Notwendigkeit einer Entschädigung der durch das sozio-ökonomische Bedingungsgefüge ermöglichten Gewalterfahrungen unterstreichen. Andererseits stellt diese Forderung eine Kritik der bestehenden Wertstrukturen dar, die solche Arbeit systematisch abwerten oder ignorieren.
Erinnerungsarbeit als auferlegte Arbeit
Aus einem zweiten Aspekt heraus ist die Forderung nach Wages for Remembrance sinnvoll und notwendig. Im Unterschied zu klassischer Lohnarbeit, die bestreikt oder verweigert werden kann, um eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Anerkennung zu erreichen1 3, ist dies bei Arbeit im Umgang mit sexualisierter Gewalt nicht möglich. Ähnlich wie Care-Arbeit von Alleinerziehenden oder die emotionale und soziale Mehrarbeit, die von Queers in einer heterosexuellen und heteronormativen Umgebung geleistet wird, wird Überlebenden die Arbeit im Umgang mit sexualisierter Gewalt auferlegt. Es gibt keine Möglichkeit, diese Arbeit nicht zu leisten und trotzdem Heilung und Gerechtigkeit zu erfahren, und auch keine Alternativen zu dieser Arbeit, wie Berichte von Überlebenden von sexualisierter Gewalt deutlich machen. Dora (anonymisiert), die als Kind von ihrem Vater misshandelt wurde, der wiederum Doras Kinder missbrauchte, erzählt, wie ihr Ex-Ehemann die Beziehung zu ihrem Vater unverändert aufrechterhielt, als wäre nichts geschehen:
„Und das war ganz schlimm für mich. Und ich habe es dann auch meinem Mann gesagt. Aber er hat das eigentlich nicht gerade so-. Und auch nachher hat er immer mit ihm getegelt [Anm.: getrunken] und mein Mann und ich, wir haben uns dann ja getrennt irgendwann. […] Und, und da- das ist für mich halt auch so, wo mir vorkommt, wenn er hinter mir gestanden wäre, dann hätte er so etwas nicht getan.“13:Z222-228
Dora leistet Arbeit, indem sie kontinuierlich die Traumata verarbeitet, die sowohl durch die ursprünglichen Misshandlungen ihres Vaters als auch durch das fortgesetzte Fehlverhalten ihres Ex-Ehemanns entstehen. Die anhaltende freundschaftliche Beziehung ihres Ex-Ehemanns mit ihrem Vater trotz seiner Kenntnis von Doras Vergangenheit stellt eine ständige emotionale Belastung dar, die sie eigenständig bewältigen muss. Dieses ständige Ringen mit den Folgen der Gewalt und der fehlenden Unterstützung zeigt, dass Dora eine signifikante Menge an Arbeit leistet, um ihre persönliche Stabilität und Würde unter diesen belastenden Umständen aufrechtzuerhalten. Die Arbeit – das ständige Ringen mit den Folgen der Gewalt – wird ihr aufgezwungen, ohne die Möglichkeit, sich ihr zu entziehen. Dora leistet ein enormes Maß an Mehrarbeit, während der Täter ohne Konsequenzen weiterlebt. Dass Doras Ex-Ehemann von den Gewalterfahrungen seiner Frau durch ihren Vater weiß, hat keine Konsequenzen für den Vater. Hier wird eine gewisse Arbeitsverteilung in dem Sinne ersichtlich, als Täter*innen Privilegien haben und Überlebende emotionale Mehrarbeit leisten müssen. Die ungleiche Verteilung geht noch weiter: Doras Ex-Mann vergisst sogar den Missbrauch der Töchter.
„Und ich weiß nicht, die Anna [Anm.: ihre Tochter, die ebenfalls von Doras Vater sexuell belästigt wurde], hat zu ihm dann das einmal gesagt wegen-. Das hat er gar nicht mal mehr gewusst wegen den Mädchen, dass mein Tata auch mal die Mädchen angegriffen hat und so. Das hat er gar nicht mehr gewusst.“13:Z228-232
Daran wird die Folgenlosigkeit für den Täter und die Folgenhaftigkeit für die Überlebende klar ersichtlich. Die Konsequenzen für Täter*innen bleiben aus, was die Privilegien jener festigt, die von bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnissen profitieren.
Diese Dynamik macht deutlich, dass die Arbeit, die im Umgang mit den Folgen sexualisierter Gewalt geleistet wird, Überlebenden aufgezwungen wird – eine Realität, die sie nicht einfach wählen oder ablehnen können. Es ist eine Arbeit, die Auswirkungen auf das persönliche Wohl und die gesellschaftliche Gesundheit hat und daher dringend Anerkennung und Wertschätzung verdient.
Ausblick: Wages for Remembrance?
Wir dürfen all die wichtige Arbeit gegen das kollektive Vergessen, gegen das Verschweigen von sexualisierter Gewalt nicht aus dem antikapitalistischen Kampf ausklammern. Arbeit im Umgang mit sexualisierter Gewalt ist unbezahlte Arbeit, die wie selbstverständlich als Verantwortung der Überlebenden gesehen wird: Es sind sie, die sich an Gewalt erinnern sollen. Die die Taten zur Anzeige bringen sollen. Die an sich arbeiten und oft jahrelange Therapien besuchen sollen. Das ist eine strukturelle Schieflage und zeigt die Notwendigkeit auf, Arbeit im Umgang mit sexualisierter Gewalt, die innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaft ungleich verteilt ist, als solche anzuerkennen.
Es ist der Verdienst feministischer Theoretiker*innen und Aktivist*innen, die darauf hinwiesen, dass die traditionelle Sicht auf Arbeit – als ausschließlich wertproduzierende Tätigkeit – zu eng gefasst ist. In Anlehnung an die Forderung nach Wages for Housework1 und Wages Due Lesbians3 müssen wir auch Wages for Remembrance fordern, um die sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen von Reproduktionsarbeit und emotionaler Arbeit anzuerkennen. Arbeit im Umgang mit sexualisierter Gewalt stellt eine Form des Widerstands gegen die neoliberale Entwertung des Sozialen dar und betont die Bedeutung gemeinschaftlicher und kooperativer Ansätze zur Bewältigung der Folgen dieser Politiken. Indem wir die anhaltenden Kämpfe für gerechtere Reproduktionsbedingungen in den Mittelpunkt rücken, fordern wir eine Anerkennung der sozialen Schäden, die durch androzentrische, heteronormative, rassistische, postkoloniale Politiken verursacht wurden. Gleichzeitig verlangen wir eine Entschädigung, die sich auf die Sichtbarmachung verletzender Strukturen, auf soziale Gerechtigkeit sowie die Stärkung gemeinschaftlicher Reproduktionsformen konzentriert.
Um Wages for Remembrance in der Praxis umzusetzen, geht es ausdrücklich nicht um eine finanzielle Vergütung. Wir wollen kein Geld. Wir wollen eine kollektive Einsicht in die Gewalthaftigkeit kapitalistischer Strukturen, die das Ökonomische wie das Soziale durchziehen und formen. Im Vordergrund steht die Forderung, verletzende, isolierende und ausbeutende Strukturen eines androzentrischen, heteronormativen, rassistischen, postkolonialen Kapitalismus sichtbar zu machen, die manchen von uns ein Übermaß an emotionaler und sozialer Mehrarbeit abverlangt. Wir fordern Wages for Remembrance als Plädoyer gegen das kollektive Ausschweigen von Arbeit im Umgang mit sexualisierter Gewalt. Das Ausschweigen dient dazu, Geschichten und Kämpfe unsichtbar zu machen. Durch unsere Forderung nach Wages for Remembrance schaffen wir ein Bewusstsein für die aktuellen sozialen und wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten, die durch das kapitalistische System und seine verschiedenen Ausprägungen – von der Kürzung sozialer Dienste bis hin zur Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen oder Barrieren im Gesundheitssystem – hervorgerufen werden. In der Forderung nach Wages for Remembrance unterstreichen wir die Bedeutung der Solidarität und des kollektiven Widerstands gegen das Bedingungsgefüge von sexualisierter Gewalt und fördern damit einen inklusiven feministischen Ansatz, der sich nicht nur gegen geschlechtsspezifische Ungerechtigkeiten, sondern auch gegen andere Herrschaftsverhältnisse wie Rassismus oder Klassenunterdrückung richtet.
Indem wir Wages for Remembrance fordern, verhindern wir, dass die Verantwortung allein auf Überlebende abgewälzt wird. Sie haben schon genug getan. Es ist unsere kollektive Verantwortung, die systemischen Strukturen, die Gewalt ermöglichen und perpetuieren, endlich sichtbar zu machen und zu dekonstruieren. Es liegt an uns, Verantwortung zu übernehmen und das kollektive Ausschweigen zu beenden, um die Grundlagen unserer Gesellschaft, die Gewalt dulden und normalisieren, radikal zu verändern.
[1] Ich verwende im Text häufig die Form ‚wir‘. Es ist ein Ausdruck unserer gemeinsamen Verantwortung und eine Anrufung unseres gemeinsamen Bestrebens, systemische Veränderungen herbeizuführen und die strukturellen Ursachen von sexualisierter Gewalt offenzulegen.
[2] Diese Bezeichnung stammt von Claudio (anonymisiert), der an einer Studie zu sexualisierter Gewalt im sozialen Nahraum in Südtirol teilnahm. Wörtlich sprach Claudio von einer „grammatica della violenza“, die Überlebenden oft fehle und das Erkennen sowie die Aufarbeitung erschwere.
Die Studie wird gefördert vom Land Südtirol, der Stiftung Südtiroler Sparkasse und der Universität Innsbruck. Link zur Studie: https://www.uibk.ac.at/de/geschlechterforschung/projekte/sexualisierte-gewalt-in-sudtirol/
[3] In Bezug auf die Frage, ob soziale Reproduktionsarbeit wertgenerierend ist oder nicht, positionieren sich marxistische Feministinnen unterschiedlich. Für eine genauere Ausführung der unterschiedlichen Positionen siehe Tithi Bhattacharya et. al. 2021.
Zur Autor*in:
Laura Volgger (sie/ihr) promoviert zu „Queer-feministische Theoretisierung von sexualisierter Gewalt und (Ver-)Schweigen“ und ist als Prä-Doc Mitarbeiterin am Center Interdisziplinäre Geschlechterforschung Innsbruck (CGI) tätig. Mehr zu Lauras Arbeit findet ihr hier: https://www.uibk.ac.at/de/dk-gender/doktorandinnen/personliche-seite-volgger/
Quellen:
1 Federici, Silvia, Wages Against Housework, Bristol: Fading Wall
Press 1975, URL:
[https://caringlabor.files.wordpress.com/2010/11/federici-wages-against-housework.pdf],
einges. 2.3.24.
2 Giles, Harry Josephine, Wages for Transition, 16.12.2019, URL:
[https://hjosephinegiles.medium.com/wages-for-transition-dce2b246b9b7], einges.
24.4.24.
3 Raha, Nat, Ein queer-marxistischer
Transfeminismus: Zur queeren und trans sozialen Reproduktion, in: Friederike
Beier (Hrsg.), Materialistischer Queerfeminismus, Münster: Unrast Verlag 2023,
S. 105-142.
4 Gopinath, Gayatri, Impossible Desires. Queer Diaspora and South
Asian Public Cultures, Durham / London: Duke University Press 2005.
5 Weston, Kath, Families we choose. Lesbians, gays, kinship, New
York: Columbia University Press 1991.
6 Seeck, Francis, Care trans_formieren. Eine ethnographische Studie zu trans und
nicht-binärer Sorgearbeit, Bielefeld: transcript 2021.
7 Vogel, Lise, Marxism and the Oppression of Women: Toward a
Unitary Theory, 2. Aufl., Chicago:
Haymarket 2013 [1983].
8 Cavallero, Luci / Gago, Verónica, Der Haushalt
als Versuchslabor. Feministische Kämpfe um Mieten, Haus- und Heimarbeit, Wien
et al.: transversal texts 2023.
9 Mezzardi, Alessandra, On the value of social reproduction.
Informal labour, the majority world and the need for inclusive theories and
politics, in: Radical Philosophy 2.04 (Spring 2019), S. 33-41.
10 Reuschling, Felicita, Familie im
Kommunismus. Zur Abwertung reproduktiver Arbeit und der Fortschreibung
kapitalistischer Geschlechterarrangements in der Sowjetunion, in: Kitchen
Politics (Hrsg.), Die Neuordnung der Küchen. Materialistisch-feministische Entwürfe
eines besseren Zusammenlebens, Münster: edition assemblage 2023, S. 91-102.
11 Federici, Silvia, Die Reproduktion der
Arbeitskraft im globalen Kapitalismus und die unvollendete feministische
Revolution, in: Silvia Federici (Hrsg.), Aufstand aus der Küche.
Reproduktionsarbeit im globalen Kapitalismus und die unvollendete feministische
Revolution, Münster: edition assemblage 2012, S. 21-86.
12 Bhattacharya, Tithi / Farris, Sara R. / Ferguson, Sue, Social
Reproduction Feminisms, in: Beverley Skeggs et al. (Hrsg.), The SAGE Handbook
of Marxism, London et al.: SAGE 2021, S. 45-67.
Interviewmaterial:
13 16JG_Dora, 2023, Interviewmaterial bei der Verfasserin
14 21LV_Claudio, 2023, Interviewmaterial bei der Verfasserin
