Kategorien
Aktivismus

Feminizide in Deutschland und Österreich: Eine alarmierende Realität am Internationalen Frauentag

Wie Aktivist*innen aus dem globalen Süden kreative Impulse für den Widerstand geben

Beitrag von Helen Schindler

(C) Privat

Schon mal „rote Schuhe“ gegoogelt? Sofort erscheinen zahlreiche Anzeigen für Pumps bei Amazon und anderen Plattformen. Nicht so, wenn man mit der italienischen Entsprechung sucht: Beim Eintrag „Scarpe rosse“ kommen an erster Stelle Bilder von zahlreichen Paaren roter Schuhe auf italienischen Plätzen und das nicht nur in Bologna, Rom und Mailand…

Rote Schuhe bzw. „Scarpe rosse“ nehmen inzwischen regelmäßig zentrale Plätze vieler Städte weltweit in Beschlag.  Sie erinnern an die Frauen, die sie nicht mehr tragen können. Die Künstlerin Elina Chauvet aus Ciudad Juárez, die ihre eigene Schwester durch einen Feminizid verlor, gibt den Frauen mit dieser von ihr initiierten Aktion den Raum, der ihnen gebührt und appelliert an den Respekt, der ihnen verweigert wurde. Mit der Sprache der Kunst benennt sie das Phänomen Frauenmord klar und deutlich: ein Feminizid ist die extremste Form von Gewalt gegen Frauen und nicht nur am Internationalen Tag gegen Gewalt gegen Frauen muss darüber gesprochen werden. Es müssen gesamtgesellschaftlich Veränderungen stattfinden, damit es erst gar nicht so weit kommt. Italien macht es uns vor:

“Sharon, Victoria, Roberta, Theodora, Sonia, Piera, Lulieta, Lidia, Clara, Deborah, Rossella”:

Seit dem 8. März 2021 kennen viele in Italien ihre Namen – elf Namen von Frauen, die in den ersten 2 ½ Monaten des Jahres 2021 einem Feminizid zum Opfer fielen. So begann Staatspräsident Matarella seine vielzitierte Fernsehansprache an die Nation am Internationalen Frauentag und hielt fest: „Der Mord an ihnen erschüttert und stellt das Gewissen des Landes in Frage“.
Fast jeden Tag im Jahr ist eine Frau von einem Mordversuch durch ihren (Ex-)Partner betroffen: In Deutschland wurden in der aktuellen Studie des BKA zum Berichtsjahr 2022 insgesamt 312 Tötungsversuche dokumentiert. 133 Frauen wurden von ihrem (Ex-)Partner getötet. In Italien ähneln sich die Zahlen. Die Zentrale Informationsstelle autonomer Frauenhäuser Deutschland vermutet allerdings eine hohe Dunkelziffer. In Österreich wurden für das Jahr 2023 vom Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser 26 Feminizide dokumentiert und 51 überlebte Mordversuche. 2024 wurden hier am 7. März bereits sieben Frauen von Männern getötet, ein trauriger Negativrekord. Insgesamt ist Österreich das einzige Land in der EU, in der mehr Frauen als Männer von Männern umgebracht werden.

Weltweit werden jeden Tag 137 Frauen durch Intimpartner oder durch männliche Angehörige der eigenen Familie getötet: „Das Zuhause ist einer der gefährlichsten Orte für eine Frau“, so Kriminalpsychologin Monckton Smith. Die meisten Frauen werden laut Smith ermordet, weil sie Frauen sind und weil (Ex-) Partner oftmals ihren Wunsch nach Eigenständigkeit nicht akzeptieren. Besonders vulnerabel sind trans* Frauen – aber statistische Daten werden kaum erhoben.

Was sind die Ursachen für diese Besitzansprüche? Warum werden Feminizide zu wenig als strukturelles Problem wahrgenommen? Warum wird Feminizid nicht als die Spitze eines Eisbergs erkannt, für den Frauenfeindlichkeit in der Gesellschaft den Nährboden bereitet? Wie kann gegen Feminizide und damit auch gegen tief verwurzelte und zu wenig wahrgenommene Ungleichheit der Geschlechter nachhaltig und wirkungsvoll angekämpft werden?

 „Aver ragione non ci basta“ (Recht haben reicht uns nicht) haben sich italienische Aktivisten*innen zum Motto gemacht: Es reicht nicht, das Problem beim Namen zu nennen – es muss etwas dagegen getan werden. Denker*innen und Akteure*innen des globalen Südens präsentieren dafür interessante Ansätze. So machte bereits 2015 ein Kollektiv von Künstler*innen, Journalist*innen und Aktivist*innen in Argentinien, das sich den Namen „Ni una menos“ (Keine weniger) gab, auf die vielen Feminizide aufmerksam und mobilisierte bald Hunderttausende in Südamerika. Die Bewegung ist auf den unterschiedlichsten Bühnen unterwegs und gleichzeitig eine Inspiration weltweit. In Italien wurden die Ideen von Ni Una Menos im Vergleich zu anderen europäischen Ländern rasch aufgegriffen und eine gut organisierte Bewegung entstand bereits ein Jahr später. Das Problem ist deshalb in der italienischen Medien seit 2016 viel präsenter als in Deutschland, wo Feminizide noch 2021– wenn überhaupt – vorrangig als ‘Ehrenmorde’ oder Einzeltaten von „Trieb-Tätern“ oder als „Handlungen im Affekt“ in den Medien dargestellt und auch so häufig in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Hierzu ist in den nächsten Wochen ein Gastbeitrag geplant. Auch wenn seit dem Lockdown und dem einhergehenden Anstieg häuslicher Gewalt mehr mediale Aufmerksamkeit entstand, ist die Berichterstattung deutscher Leitmedien noch weit davon entfernt, Feminizide durchgehend als strukturelles Problem zu framen.

Die Philosophin Eva von Redecker – die zu Geschlechterverhältnissen und zivilisatorischen Wandel forscht – betont, dass es gegen frauenfeindliche „Verhältnisse langfristig nur hilft, umfassend die Sprache zu wechseln“, denn wie Gewalt an Frauen in einem medialen Diskurs dargestellt wird, beeinflusst auch die öffentliche Wahrnehmung des Problems.

Die Kommunikationswissenschaftlerin Christine Meltzer fand in ihrer Anfang Juni 2021 erschienenen Studie mit dem bezeichnenden Titel „Tragische Einzelfälle? Wie Medien über Gewalt an Frauen berichten“ heraus, dass in der Berichterstattung tendenziell Fälle von häuslicher Gewalt als Einzeltaten dargestellt werden. Der Fokus liegt nicht auf der strukturellen Problematik und die Aufmerksamkeit gilt mehr dem Täter als dem Opfer. Deshalb fordert Meltzer „Mehr Raum für Opfer“, denn eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den ersten Anzeichen von psychischer und physischer Gewalt in den Medien würde den Betroffenen helfen, sich mit ihrem Problem nicht allein zu fühlen und sie ermutigen, Hilfe zu suchen.

Feminizid ist die extremste Form von Frauenfeindlichkeit und eben nicht ein „Familiendrama“, ein „Ehestreit“ und auch nicht „nur“ eine „Bluttat“, sondern ein Feminizid – nämlich ein Mord an einer Frau, weil sie Frau ist, und das muss auch so benannt werden. Feminizid ist Ausdruck für eine manifeste Ungleichheit. Gesetze reichen nicht aus – sie müssen immer wieder aufs Neue verteidigt, aber vor allem gelebt werden – so wie es zum Beispiel die argentinischen Aktivistinnen von Ni Una Menos praktizieren: Mit ihren Performances erobern sie sich den öffentlichen Raum zurück. Gleichzeitig möchte Ni Una Menos Gesellschaft radikal neu denken: Deshalb sehen sich die Frauen als Aktivistinnen und nicht als Opfer und klagen strukturelle Ungleichheit an – ihre Kritik richtet sich gegen strukturelle, kapitalistische, koloniale und patriarchale Gewalt. Ni Una Menos betrachtet Diskriminierung intersektional, spricht so viele marginalisierte Gruppen an und organisiert sich mit ihnen gemeinsam. Die Bewegung zeichnet sich aus durch ein starkes Bewusstsein für prekarisierte Gruppen und fragt sich zum Beispiel, wie Streik und Protest funktionieren kann, wenn jemand Care-Arbeit verrichtet. Die Bewegung gibt neue kreative Impulse und ihre Ansätze verbreiteten sich durch den Internationalismus der neuen sozialen Bewegung vor allem in Spanien und Italien, aber inzwischen werden auch Deutschland und Österreich darauf aufmerksam.

Zusammenfassend wird deutlich, dass das Phänomen Feminizid nicht isoliert betrachtet werden kann und nur die Spitze eines Eisbergs darstellt. Es ist ein Symptom einer patriarchalen Struktur, die weltweit existiert. Eine strukturelle Veränderung, die Feminist*innen am achten März fordern, erfordert auch nach von Redecker eine radikale Veränderung der Sprache sowie neue dekoloniale Protestpraxen mit intersektionalen Perspektiven auf Diskriminierung und Unterdrückung: Aus dem globalen Süden können wir also einiges lernen.


Gewaltschutz in Tirol:

Frauenhelpline Österreich: 0800 222 555 (24 Stunden)

Frauenhaus Tirol: +43 512 342112 (24 Stunden)

Gewaltschutzzentrum Tirol: +43 512 57 13 13 (Mo-Fr, 9-20 Uhr)

Zur Autor*in:

Helen Schindler ist Teil des FUQS-Kernteams und hat in ihrer Bachelorarbeit die Frage untersucht, wie sich der von der Frauenbewegung „Ni Una Menos“ 2015 angestoßene Diskurs zum Thema Feminizide in Deutschland und Italien entwickelt hat. Dazu hat sie im ersten Quartal 2021 die auflagenstärksten Leitmedien aus Deutschland (BILD, Süddeutsche Zeitung) und Italien (la Repubblica, Corriere della Sera) vergleichend untersucht.

Quellen:

Kriminalstatistik zu Partnerschaftsgewalt + häuslicher Gewalt 2022 – Frauenhauskoordinierung

AÖF – Zahlen & Daten (aoef.at)

Femminicidi, nel 2023 in Italia già raggiunte le 100 vittime in 10 mesi (osservatoriodiritti.it)

Bachelorarbeit Helen Schindler

Hinterlasse einen Kommentar