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Wie sich Kinderarmut auf soziale Aufstiegschancen auswirkt und einzig Hilfe zur Selbsthilfe hilft

Ein Essay-Beitrag von Laura

Foto: privat

Das Buch „Kein Pausenbrot, keine Kindheit, keine Chance“ (2020) von Jeremias Thiel erzählt die Kindheit des Autors aus der Ich-Perspektive. Thiel wuchs in einer Familie auf, die von Armut, Krankheit und Überforderung geprägt war. Bedingungen, die viele Kinder in Deutschland betreffen. Laut Statistischem Bundesamt lebt rund jedes fünfte Kind in Armut (DER SPIEGEL 2024). Sein autobiografisches Buch handelt von fehlenden Chancen, Hilflosigkeit und dem tiefen Wunsch nach einem Ausweg. Darüber hinaus zeigt Thiels Geschichte, dass Armut nicht nur materiell wirkt, sondern auch strukturell und emotional. Der vorliegende Text fokussiert sich auf ausgewählte Erfahrungen des Autors im Hinblick auf ungleichheits- und emotionstheoretische Konzepte.

Die Schule lässt sich als Ort der Reproduktion sozialer Ungleichheit beschreiben. Es ist ein Raum feiner Distinktionsmechanismen von Sprache über das Pausenbrot bis zur Gymnasialempfehlung. Thiel schreibt: „In der vierten Klasse hatte ich keine Empfehlung fürs Gymnasium bekommen, obwohl meine Noten dafür gesprochen hätten. Auf dem Etikett, das man mir aufgeklebt hatte, stand: schlauer Kerl, aber arm“ (Thiel 2020: 11). Hiermit wird die
symbolische Gewalt von Pierre Bourdieu veranschaulicht: Eine subtile Form sozialer Machtausübung, die als gerecht erscheint und nicht hinterfragt wird. Das Beispiel verdeutlicht, dass Lehrkräfte neben den Noten die soziale Herkunft oftmals unbewusst mit einbeziehen, wenn es um das Aussprechen der Gymnasialempfehlung geht. Auch wenn sich Lehrkräfte bemühen, können sie sich kaum gegen die gesellschaftlichen Strukturen widersetzen, die Kinder aus ärmeren Verhältnissen benachteiligen. Infolgedessen sind Bildungsinstitutionen Orte der Klassifikation: Zwar wird Gleichheit propagiert, aber Ungleichheit unbewusst produziert. Diese stillschweigende Reproduktion sozialer
Ungleichheit lässt sich am Beispiel Thiels nichtnur als symbolische Gewalt, sondern auch als institutionelle Diskriminierung fassen. Gemeint ist die strukturelle Benachteiligung bestimmter Gruppen durch Normen, wie sie in der Schule herrschen.

Diese Diskriminierung wirkt gleichermaßen auf mehreren Ebenen: Einerseits in direkter Form, etwa durch Entscheidungen im Zuge der Frühselektion nach der Grundschule. Trotz guter Leistungen erhält Thiel keine Empfehlung für das Gymnasium. Eine Entscheidung, die nicht seine Fähigkeiten, sondern seine soziale Herkunft widerspiegelt. Andererseits zeigt sich institutionelle Diskriminierung auch in indirekter Form – subtiler, aber ebenso wirkmächtig. Sie zeigt sich in Erwartungen an sprachlichen Ausdruck, an das Verhalten der Eltern sowie an ein äußeres Erscheinungsbild, das den schulischen Normen entspricht. Wer diese unausgesprochenen Erwartungen nicht erfüllt, fällt auf. Es ist kein Fehlverhalten, sondern die Abweichung von einer Norm. Diese Verbindung aus struktureller Ausgrenzung und subtiler Abwertung lässt Kinder wie Thiel in einem System zurück, das ihnen unterschwellig vermittelt, ihr Scheitern sei selbstverschuldet. Thiel beschreibt einen typischen Morgen in seiner Familie: „Diese Morgen waren nicht alle
gleich, aber sie hatten eines gemeinsam: Sie waren von Überforderung geprägt. […] Dass meine Mutter laut und oft auch handgreiflich wurde – es gehörte zu meinem Tagesbeginn“ (ebd.: 88). Dass seine Mutter laut wird, macht deutlich, dass Thiel als Kind sehr wohl spürt, dass etwas nicht stimmt: Sei es Überforderung, die sich in lauten Ausbrüchen oder sogar in Handgreiflichkeiten äußert. Sprache, die als Mittel der Kommunikation und Fürsorge in anderen Familie dient, schlägt hier in Sprachlosigkeit und Gewalt um. Wenn einem die Worte fehlen, um Überforderung auszudrücken, greift man zur Gewalt. Es ist gleichzeitig ein Ausdruck von Hilflosigkeit. Aus der Perspektive des Kindes sind diese Ausbrüche keine Ausnahmen, sondern Teil seines Alltags.

Am Beispiel seines Pausenbrots verdeutlicht Thiel eindrücklich die soziale Bedeutung scheinbar alltäglicher Dinge: „Zwischen zwei Scheiben labbrigen Toastbrot […] lag eine Scheibe Lyoner aus der Plastikverpackung vom Discounter. Eine Brotdose hatte ich nicht, stattdessen verlor sich mein Pausenbrot in einem Plastikbeutel“ (ebd.: 88-89). Diese Situation zeigt symbolisch den Klassenunterschied zu seinen Mitschüler:innen. Sie verweist nicht nur auf fehlende finanzielle Mittel, sondern auch auf Lieblosigkeit. Während andere Kinder geschmierte Brote in bunten Dosen mit Obst und Snacks mitbringen, steht sein Pausenbrot als Sinnbild für Scham und Vernachlässigung. Der Autor illustriert, dass er keine Familie hat, die ihn aktiv in der Schule unterstützt, beispielsweise in Form von Hausaufgabenbetreuung. Es wird deutlich, wie gering sein soziales Kapital nach Bourdieu ist und wie sehr sich das auf seine schulische und soziale Entwicklung auswirkt. „Ich habe viel zu früh viel zu viel Verantwortung übernehmen müssen, habe ein Stück weit meine Familie ‚gemanagt‘, obwohl ich selbst gerade erst Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt hatte“ (ebd.: 14). Thiel übernimmt Verantwortung aus einem habitualisierten und verinnerlichten Pflichtgefühl heraus. Seine familiäre Situation lässt ihm keine andere Wahl. Bourdieu spricht vom „Habitus der Notwendigkeit“, in dem Entscheidungen nicht aus freien Stücken, sondern aus Zwang heraus getroffen werden (Wolf 2025: 42). Thiel erklärt: „[U]nd das war für mich das Schlimmste – war ich gezwungen, ein Leben zu führen, dem jedes noch so kleine Stückchen Struktur und Ordnung fehlte“ (Thiel 2020: 14). Thiel veranschaulicht, wie ihn seine familiäre Situation in eine Rolle drängt, die ein Kind nicht übernehmen sollte: Verantwortung tragen, funktionieren, aushalten. Er spricht von Scham über Kleidung, über das Pausenbrot, von dem Gefühl, nicht dazuzugehören und einer tiefen Sehnsucht nach Ordnung und Klarheit.

Die von Eva Illouz beschriebene emotionale Ordnung moderner Gesellschaften hilft dabei, Thiels Erfahrungen nicht nur individuell, sondern als gesellschaftlich geprägte zu betrachten. Scham, das Gefühl der Abweichung oder das Empfinden des Nicht-Dazugehörens sind in dieser Perspektive keine bloßen privaten Reaktionen. Vielmehr spiegeln sie gesellschaftliche Regeln wider, wer sich wie fühlen darf – und wer nicht. In einer Gesellschaft, die bestimmte Normen fortwährend reproduziert, sind Emotionen wie Scham und Überforderung beinahe unausweichlich, sobald jemand von diesen Erwartungen abweicht. Solche Gefühle tragen zur Stabilisierung sozialer Ungleichheit bei. Diese emotionale Ordnung ist kein Zufall, sondern wird kulturell hergestellt, u. a. durch Institutionen wie die Schule, die Bewertungssysteme übernimmt, soziale Normen weiterträgt und dabei Emotionen reguliert. In diesem Gefüge erscheinen Emotionen wie Scham oder Hoffnungslosigkeit nicht als Kritik am System, sondern als persönliches Problem.

Erst im SOS-Kinderdorf erfährt Thiel so etwas wie Fürsorge und ein Leben, das nicht von Chaos, sondern von Struktur geprägt ist. „Im SOS-Kinderdorf in Kaiserslautern angekommen [,] verwandelte sich mein Leben von Grund auf. Zum ersten Mal erlebte ich verlässliche Fürsorge durch Erwachsene, so etwas wie ein strukturiertes Leben und Ruhe“ (ebd.: 14-15). Auch in der Tagesgruppe, die ihm durch das Eingreifen einer Lehrerin ermöglicht wird, erlebt er zum ersten Mal emotionale Verlässlichkeit und soziale Stabilität. „In der Tagesgruppe fand ich Erwachsene, die für mich da waren“ (ebd.: 34). In der Tagesgruppe wird greifbar, was Bourdieu unter sozialem Kapital versteht: Zugehörigkeit, Beziehungen und verlässliche Netzwerke. Thiel wird zum ersten Mal Teil einer Gemeinschaft, die an ihn glaubt und ihm den Raum gibt, sich zu entfalten. Einerseits gelang Thiel in die Tagesgruppe nur, weil eine Lehrerin auf ihn aufmerksam wurde. Andererseits kam Thiel nur ins SOS-Kinderdorf, weil er selbst aktiv wurde mit einem Hilferuf und einem Vorsprechen beim Jugendamt. In meinem Empfinden ist es bezeichnend, dass ein elfjähriges Kind diesen Schritt allein gehen musste, weil es sonst niemand für ihn getan hätte.

Thiel beschreibt, wie ihm oft Scham überkam: wegen seines Pausenbrots, seiner Kleidung, seiner Andersartigkeit. Diese Scham ist Ausdruck eines Gefühls von Mangel: nicht nur an Geld bemessen, sondern auch an Zugehörigkeit und Wertschätzung. Er schreibt von dem Gefühl, nach Armut zu riechen, und davon, dass andere Kinder nicht ahnen können, wovon arme Kinder träumen – etwa von einem Druckbleistift (ebd.: 101). Armut wirkt hier nicht nur materiell, sondern auch tief emotional: Sie untergräbt Selbstwert und soziale Teilhabe.

Insbesondere beschäftigt mich die Frage, warum soziale Ungleichheit oftmals individuell betrachtet wird? Thiels frühes „Scheitern“ im Bildungssystem wird nicht als Systemversagen markiert, sondern erscheint wie eine logische Folge seiner sozialen Herkunft. Symbolische
Gewalt zeigt sich gerade darin, dass sie nicht als solche erkannt wird und als gerecht erscheint, weil sie durch vermeintlich neutrale Strukturen wie Schulnoten oder Übergangsempfehlungen verschleiert wird. Die Idee, dass Bildung für alle gleich ist, ignoriert reale Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, die Kinder unterschiedlich stark belasten.

Thiels Geschichte ist eindrücklich, weil sie sichtbar macht, wie sich strukturelle Ungleichheit in das Leben von Kindern einprägt. Es ist ein Leben, in dem Selbsthilfe zur einzigen Option wird: Hilfe von außen kommt oft zu spät oder bleibt ganz aus. Bildung bleibt machtlos gegenüber sozialer Ungleichheit, solange finanzielle und materielle Voraussetzungen ungleich verteilt sind. Ein System, das Chancengleichheit verspricht, aber Benachteiligungen aufgrund sozialer Herkunft ignoriert, reproduziert Ungleichheit unter dem Deckmantel von Leistung. Kinder wie Jeremias Thiel müssen nicht nur mehr leisten als andere, um überhaupt gesehen zu werden. Oft kämpfen sie zusätzlich gegen ein System, das ihre Realität gar nichterst mitdenkt.

Zugleich dient seine Geschichte der Legitimation des Systems: Sie soll zeigen, dass Aufstieg möglich sei und verschleiert genau dadurch, dass der Ausnahmefall das System nicht widerlegt, sondern bestätigt. Thiel wird zum Alibi eines Systems, das sich selbst als gerecht inszeniert, während es strukturell aussortiert. Die Geschichte Thiels zeigt eindrücklich: Es braucht nicht mehr Anpassung von den Kindern, sondern mehr Verantwortungsbewusstsein
von der Gesellschaft. Solange strukturelle Ungleichheit nicht gesehen und institutionell verschleiert wird, bleibt Bildung ein Versprechen auf gesellschaftlichen Aufstieg, das für viele keine Gültigkeit hat. Auch wenn Thiels Geschichte stark über Klasse lesbar ist, sollte nicht übersehen werden, dass soziale Benachteiligung oft mit weiteren Achsen der Ungleichheit wie Migration, Behinderung oder geschlechtsspezifischer Zuschreibung verwoben ist. Eine intersektionale Perspektive hilft, solche Überschneidungen mitzudenken: Insbesondere im Bildungssystem, wo Mehrfachdiskriminierungen selten explizit thematisiert werden.

Quellen
DER SPIEGEL (2024): In Deutschland lebt jedes fünfte Kind in Armut. Verfügbar unter: https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/kinderarmut-jedes-fuenfte-kind-in-deutschland-leidet-unter-armut-a-d17ca4ca-48e8-4ec1-83d3-d4770d5a09a7 [Zugriff am: 15.06.2025].

Thiel, Jeremias (2020): Kein Pausenbrot, keine Kindheit, keine Chance: Wie sich Armut in Deutschland anfühlt und was sich ändern muss. München: Piper.

Wolf, Maria A. (2025): Vorlesung C_2a: Sozialer Raum – Klassen – Feld. Theoretische Grundbegriffe II_Bourdieu. V orlesung im Rahmen der Lehrveranstaltung Geschichte und Theorie der sozialen Ungleichheit und Inklusion, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Innsbruck.

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