Kategorien
Wissenschaft

Der Rückschritt im Fortschritt

Beitrag von Stefanie Hofer

© Katie Rainbow 2021

Wie hängen Staat, Neoliberalismus und Geschlecht und Sexualität zusammen? Auf den ersten Blick komplett unterschiedliche Themenfelder haben auf den zweiten Blick ziemlich viele Berührungspunkte. Diesen Monat geben wir einen kleinen Einblick in das Thema, wie neoliberale Praktiken im Staat Einfluss auf Vergeschlechtlichung haben.

Viel Spaß beim Lesen!

Teil des neoliberalen States ist die sukzesive Verdrängung der Relevanz von reproduktiver Arbeit und damit auch die eigene Verschleierung seiner Abhängigkeit von einer privaten, teils unsichtbaren, reproduktiven Sphäre, die im Schatten der öffentlichen, sichtbaren, produktiven Sphäre steht. Die bereits vorher im Staat verinnerlichten Dualismen von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit4 sind so eines der tragenden Elemente eines ökonomisierten Staates. 

„Das Private ist politisch“ war bereits im 20. Jahrhundert ein Leitspruch der Frauen*bewegung. Gemeint war damals wie heute damit, dass Gegenstände, die dem „Privaten“ zugeordnet werden, etwa Familie, reproduktive Arbeit oder körperliche Selbstbestimmung, sehr wohl von öffentlichem Interesse sein sollten. Nachdem in den letzten Jahrzehnten viele dieser „privaten“ Themen an die Öffentlichkeit geholt wurden, wird die Wirkungsbreite des Staates durch Neoliberalismus wieder zurückgedrängt, indem Privatisierung erneut ausgeweitet wird.

Der neoliberale Staat benötigt zur Fortführung seiner bisherigen Struktur Einheiten, die im Grunde so strukturiert sind wie die kapitalistische Kernfamilie. Heteronormative Muster verlieren dadurch keineswegs an Berechtigung, ganz im Gegenteil: Sie gewinnen an Stärke, indem sie auch weitere Lebens- und Beziehungsformen in ihre binäre Vergeschlechtlichung aufnehmen – etwa die Möglichkeit der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare5. Dadurch trägt der Neoliberalismus mittels Flexibilisierung zu gesteigerter Sichtbarkeit sämtlichen Lebens bei, bewirkt aber keine hintergründige neue Klassifizierung, sondern lediglich eine flexible Auslegung von bereits vorhandenen Lebensmodellen. Dabei wird weiterhin nach einem androzentrischen Muster vorgegangen. 

Dadurch, dass benachteiligte Gruppen im Staat durch Kürzungen der öffentlichen Strukturen überproportional betroffen sind, können ohnehin besser gestellte Gruppen ihre Machtposition ausbauen. Das passiert hintergründig: Vordergründig geschieht eine Ökonomisierung und damit positive Vermarktlichung von diversen Beziehungsformen, Sexualitäten, Ethnien, vielfältigen Lebens- und Geschlechtsidentitäten6.

In einem kapitalistischen Staat stellt die Fähigkeit zum Konsum ein Teilhabekriterium an der Gesellschaft dar. Doch auch Konsumfähigkeit findet wiederum entlang einer vergeschlechtlichten, rassifizierten Linie statt: Höhere Löhne, die Fähigkeit dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen und Bildungsabschlüsse sind nach wie vor jenen Bevölkerungsgruppen leichter zugänglich, die sich auf produktive Aufgaben fokussieren können. 

Neoliberalismus agiert in sich selbst also paradox: Zum einen benötigt er den Staat und dessen Strukturen, um überhaupt zu bestehen, auf der anderen Seite höhlt er ihn und seine Institutionen durch Einsparungen aus. Er suggeriert, jedes Individuum hätte die gleichen Voraussetzungen, seine ökonomische Position und damit seine Partizipationsfähigkeit selbst zu bestimmen, während Grundlagen zum Vorantreiben von Gleichstellung im Sinne eines Wohlfahrtsstaats systematisch entzogen werden. 

Sowohl die Konzeption von Staat als auch jene von Zweigeschlechtlichkeit und der Existenz von getrennter privater und öffentlicher Sphäre gelten als unumstößlich. Dennoch verlangen die sich wandelnden Anforderungen der Gesellschaft immer öfter, dass Personen, die der reproduktiven Arbeit zugeordnet werden, gleichzeitig Lohnarbeit verrichten, was zum einen die Mehrfachbelastung der einen Personengruppen steigert, zum anderen jedoch wenig an der hintergründigen Struktur ändert7

Die aktuelle Auslegung des neoliberalen Staats ist eine, die auf vergeschlechtlichter Ebene für gesteigerte Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit für unterschiedliche Lebensformen sowie unterdrückte Personengruppen sorgen kann. Formell wird Gleichbehandlung gefordert, theoretisch ist sämtlichen Personen Teilhabe an Staat und Konsum gewährt. Dabei handelt es sich tatsächlich um eine Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Das jedoch versteckt eigentliche Unterschiede und die zugrundeliegenden Strukturen. Ungleichheiten werden so viel verdeckter und stabiler in das System eingebaut. Somit werden sie auch komplexer, Kritik und Beobachtung muss einige Ebenen tiefer gehen. Hintergründig wird Ungleichheit enger mit dem Staat und dem ökonomischen System zusammengeführt, unbemerkt immer fester verankert, die androzentrische Ausrichtung wird unbemerkt weiter forciert8.

Durch Abbau des öffentlich-staatlichen Einflussbereichs und gleichzeitiger Ausweitung der privaten Sphäre als staats- und scheinbar teils rechtsfreien Raum findet eine Festigung des androzentrischen westlichen  Staates statt. Staatsmacht wird verlagert, wodurch sie eine Funktionsweise erlangt, die das Individuum stärker anspricht. Das geschieht unter anderem durch die oben erwähnte Kapitalisierung und Vermarktung von unterschiedlichen Lebensweisen. Eine Gesellschaft, in der Vielfalts- und Gleichheitsbestrebungen vorangetrieben werden, darf nie die eigentlichen Machtverhältnisse aus den Augen verlieren, welche sich nach wie vor stark unter anderem an der vergeschlechtlichten Linie orientieren9. Neoliberalismus bzw. kapitalistische Ökonomie verfestigen so ihre Schlinge, die sie um den Staat legen. Es ist nicht auszuschließen, dass sich diese früher oder später weiter zuziehen und die Kluft zwischen theoretischen Einschlüssen und praktischen Ausschlüssen noch weiter auseinanderreißen.


Quellen:

Angelehnt an: Hofer, Stefanie (2024): Die Veränderung der vergeschlechtlichten Dimension von Staatsbürger*innenschaft im Neoliberalismus. Masterarbeit. LFU Innsbruck.

1 Appelt, Erna (1997): Kann der Gesellschaftsvertrag feministisch konzipiert werden? L’homme: Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft, 8 (1), S. 64-77.

2 Lemke, Thomas; Krasmann, Susanne; Bröckling, Ulrich (2000): Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. In: Bröckling, Ulrich; Krasmann, Susanne; Lemke, Thomas (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. 8. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 2-40.

3 Martinsen, Franziska (2019): Grenzen der Menschenrechte. Bielefeld: transcript Verlag (75).

4 Sauer, Birgit (2001): Öffentlichkeit und Privatheit revisited. Grenzziehungen im Neoliberalismus und die Konsequenzen für Geschlechterpolitik. Kurswechsel (4), S. 5–11.

5 Ludwig, Gundula; Woltersdorff, Volker (2018): Sexuelle Politiken im autoritären Neoliberalismus zwischen den Versprechen von Freiheit und Sicherheit. In: Pühl, Katharina; Sauer, Birgit (Hg.). Kapitalismuskritische Gesellschaftsanalyse: queer-feministische Positionen. 1. Auflage. Münster: Westfälisches Dampfboot. S. 47-73.

6 Brown, Wendy (2021): Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört. 2. Auflage. Berlin: Suhrkamp.

7 Pateman, Carole (2009):The sexual contract. [Nachdr.]. Stanford: Stanford UniversityPress.

8 Ludwig, Gundula (2013): Feministische Überlegungen zu Postdemokratie und der Entpolitisierung des Sozialen. PVS 54 (3), S. 461–484. 

9 Appelt, Erna (1999): Geschlecht – Staatsbürgerschaft – Nation. Politische Konstruktionen des Geschlechterverhältnisses in Europa. Frankfurt/Main: Campus-Verlag (Politik der Geschlechterverhältnisse, 10).

 

Hinterlasse einen Kommentar